REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Kurzinformation Religion: Sufismus
Begriff
Sufismus bezeichnet die islamische Mystik. Die ersten ab 700 (in Khorassan, im heutigen Nordostiran) auftauchenden Sufis waren vor allem Einzelgänger und Asketen, die sich in einfache wollene Gewänder kleideten, daher auch der Name Sufi vom arab. ṣūf (dt. Wolle). Denkbar wäre auch, dass sich der Begriff vom arab. ṣafā (dt. Reinheit) ableitet, wahrscheinlicher ist aber, dass er sich auf die Kleider bezog. Andere Bezeichnungen sind faqīr (arab.) oder darvīsch (pers.), was so viel wie der Arme bedeutet. Der Sufismus ist verwurzelt in der islamischen Tradition und Sufis sehen sich selbst als Muslime, auch wenn nicht ganz auszuschließen ist, dass buddhistische Ideen sufistische Denker beeinflusst haben.
Geschichte
Die ersten Sufis waren Asketen und Einzelgänger, oftmals Wanderderwische. Ihre Askese bezog sich vor allem auf Ernährung, Schlaf und Gespräche. Als al-Ḥallāǧ (gest. 922), Schüler al-Ġunaids (gest. 909), der als erster zwischen äußerem Gesetz und innerer Wahrheit unterschied, äußerte: anā al-ḥaqq (dt. „Ich bin die Wahrheit“) und damit auf seine Vereinigung mit Gott anspielte, war dies für viele eine Anmaßung. Er setzte sich mit dem Begriff “al-ḥaqq” gleich, der neben seiner wörtlichen Bedeutung als „die Wahrheit“ auch einer der 99 schönen Namen Allāhs ist. Dies wurde als Vereinigung mit Gott verstanden, für die er als Ketzer hingerichtet wurde. Damit wurde al-Ḥallāǧ zu einer bis heute relevanten Märtyrer-Figur für den Sufismus.
Frauen spielen im Sufismus auch historisch eine wichtige Rolle. Es gibt und gab sehr viele weibliche Mystikerinnen. Die bekannteste von ihnen ist wohl Rābiʿa von Basra (gest. 801), die die Idee von unbedingter Gottesliebe prägte. Über ihr Leben existieren viele Anekdoten, die von späteren Sufis wie Farīduddīn ʿAṭṭār (gest. 1220) geschrieben wurden.
Institutionalisierung
Ab dem 8. Jh. erfuhr der Sufismus eine Systematisierung. Eine wichtige Rolle spielte hier al-Ġazāli (gest. 1111), der eine Versöhnung der Mystik mit der islamischen Orthodoxie anstrebte.
Ab dem 12. Jh. kam es zur Institutionalisierung durch die Bildung von Orden (arab. tarīqa, Pl. turuq). Das 13. Jh. ist mit zahlreichen Ordensbildungen und Denkern wie Ibn ʿArabī (gest. 1240), der die Lehre der waḥdat al-wuǧūd, der Einheit allen Seins, etablierte, gewissermaßen eine Blütezeit des Sufismus. Ibn ʿArabī erfährt bis heute auch in der islamischen Orthodoxie hohe Anerkennung.
Lehre
Quellen des Sufismus sind der Koran und die Sunna, also die Tradition des Propheten Muḥammad. Dieser gilt aufgrund seiner bescheidenen und meditativen Lebensweise als großes Vorbild des Sufismus und als vollkommener Mensch (insān kāmil). Für die sufistische Praxis existieren zudem noch einige Handbücher, zu den wichtigsten Autoren zählen dabei al-Qušayrī (gest. 1072) und al-Ġazālī (gest. 1111). Im Zentrum des Sufismus steht außerdem tawhīd, der Glaube an die Einheit und Einzigartigkeit Gottes. Speziell im Sufismus wird tawhīd als “Eins-Werden mit Gott” verstanden. Oberstes Ziel des Sufis ist das Erreichen einer mystischen Einheit mit Gott (unio mystica), um sich vollständig vom menschlichen Selbst loszulösen (fanāʾ). Ausgehend von der Einheit Gottes entwickelte Ibn ʿArabī auch seine Lehre der Einheit allen Seins, eine monistische Weltsicht.
Grundlegend für das Verständnis der sufistischen Lehre ist außerdem die Unterscheidung zwischen zahir, der äußeren Hülle der Religion, und batin, dem inneren Verständnis der Religion, das zur Wahrheit führt. Wie für alle Muslime ist der Koran offenbartes Wort Gottes, das aber einen tieferen Sinn birgt, den es zu verstehen gilt. Die Konsequenz daraus, die äußere Hülle der Religion, also auch religiöse Vorschriften zu vernachlässigen, hat Sufis nicht immer in die Gunst der islamischen Orthodoxie gerückt.
Praxis
Im Mittelpunkt des Lebens eines Sufis steht das Ziel, Dankbarkeit (riḍā) und Erkenntnis zu erlangen. Diesem Ziel wird sich genähert über tarīqa, den Weg, den ein Sufi beschreiten muss. Eine schöne Metapher für den Lebensweg eines Sufis ist die Rose, deren Stängel das Gerüst, also der Weg sind; die Dornen, die dem Schutz dienen, sind die Scharia (šarīʿa); die Blüte ist die Substanz, also die innere Wahrheit der Religion (haqīqa), und ihr Duft ist die Erkenntnis (maʿrifa), das Ziel des Weges ist die Vereinigung mit Gott oder auch die Gottesschau (fanāʾ). Entscheidend dafür ist es, nafs, die eigene Triebseele, zu überwinden, was auch als der größere Dschihad (ǧihād) bezeichnet wurde.
Für die meisten Sufis sind die religiösen Pflichten des Islam, wie die šarīʿa sie beschreibt, beispielsweise das Ritualgebet fünfmal täglich und der Fastenmonat, elementare Bestandteile der religiösen Praxis. Aber die sufistische Praxis weist auch einige Besonderheiten auf. Eine davon ist ḏikr, das Gottgedenken, die Versunkenheit in Gott. Dieses kann still sein, indem bestimmte Formeln wie das Glaubensbekenntnis oder einer der 99 Namen Gottes flüsternd oder im Kopf memoriert werden, oder aber auch laut, wie man es bspw. von den „heulenden Derwischen“ kennt, die in ekstatischer Steigerung den Namen Gottes (Allahu) auf ein laut ausgerufenes hu verkürzen. Wichtig sind außerdem verschiedene Askese-Praktiken, wie Fasten (insbesondere während des Ramadan), Schlafentzug aber auch soziale Isolation. Nicht selten leben Sufis in selbst erwählter Armut, besonders häufig, wenn sie keinem Orden angehören.
Eine andere Seite des Sufismus findet sich in seinen ästhetischen Elementen wie Musik und Tanz, als Medium einer Ekstase durch die Versunkenheit in Gott. Die Verbindung des ḏikr mit Tanz und rhythmischer Musik kennen wir von dem Orden Mevlevīya, der auf den persischen Sufi-Meister und Poeten Maulānā Ǧalāluddīn Rūmī zurückgeht. Heute sind die „tanzenden Derwische“ auch eine beliebte Touristenattraktion. Das Ritual des samaʿ, dem mystischen Hören, bei dem sich die Derwische zu Flötenmusik immer schneller auf der Stelle drehen, ist als Verbindung zu Gott zu verstehen. Mit Rūmī sei auf eine weitere wichtige Komponente des Sufismus verwiesen: die Poesie und Dichtung. In poetischen Versen drückten viele Sufis ihre Gottessehnsucht und Liebe zu ihrem Schöpfer aus. Hier kann auch der persische Mystiker Farīduddīn ʿAṭṭār genannt werden, der in seinen Epen den mystischen Weg beschreibt. Auch wenn die „Heimat mystischer Poesie“ im persischsprachigen Iran liegt, gibt es bedeutende mystische Verse wie von Ḥallāǧ oder Ibn al-Fāriḍ auch in arabischer Sprache.
Organisation
Unterschieden werden können die Organisationsstrukturen der „orthodoxen“ und der „freien“ Derwischbruderschaften. Innerhalb der Orden ist eine hierarchische Struktur zu finden zwischen einem erfahrenen Meister, dem šaiḫ oder auch pīr und dem murīd, seinen Schülern (wörtl. der etwas will). Dieser ersucht einen Anteil an der Segensmacht und Weisheit des Meisters. Die Schüler werden durch diesen in den Orden initiiert: Nach der Aufnahme überwacht der Meister das geistige Wachstum und den Weg des Schülers. Dabei kann er von diesem auch asketische Praktiken wie die 40-tägige Klausur einfordern (bei dieser muss der Schüler meist in sozialer Isolation fasten und den ḏikr üben, um den eigenen Geist zu läutern).
Die Orden haben oft eigene Häuser, die wiederum den Sufis als Herberge dienen können, die sich keinem Orden angeschlossen haben und als wandernde Derwische frei umherziehen. Der am weitesten verbreitete Orden ist die Qādirīya; vor allem in Nordafrika findet sich die eher orthodoxe Šādhilīya; in Indien ist die Suhrawardīya und auch die politische agierende Čištīya verbreitet. Bei der Badawīya in Ägypten finden sich vorislamische oder bei der Bektāšīya in Anatolien eher schiitische Elemente. Die Gruppe der freien Derwischbruderschaften ist dagegen heterodox. Vielfach geht damit eine Ablehnung jeder Art bürgerlichen Lebens und eine Vernachlässigung bürgerlicher Sitten (auch der äußeren Erscheinung) einher. Außerdem verfolgen sie seltener die „orthodoxe“ Sufi-Praxis wie den regelmäßigen ḏikr, die hierarchische Struktur von Meister und Schüler sowie die mystische Lehre. Diese Religiosität ist stark ins Subjektive gewendet.
Verbreitung
Sufistische Bruderschaften gibt es in allen islamischen Ländern von Westafrika bis Indonesien. Manche Bruderschaften sind nur lokal in einzelnen Ländern zu finden, andere sind über mehrere Länder und Kontinente verbreitet. Mittlerweile haben sich so transnationale Sufi-Netzwerke etabliert und werden immer weiter verstärkt. In einigen Ländern ist auch die breite Volksfrömmigkeit nicht unwesentlich geprägt von sufistischer Religiosität. In manchen Ländern wie bspw. in der Türkei ist der Sufismus dagegen offiziell verboten, teilweise verfolgt wird er in Iran, Pakistan und Saudi-Arabien.
Besonderheiten in Europa/Deutschland
Im Westen, und so auch in Deutschland, wurde der Sufismus zuerst durch Inayat Khan (gest. 1927) bekannt, der die International Sufi Movement gründete und eine eher universelle Variante des Sufismus lehrte. Dadurch wurde Sufismus zunächst in dieser Variante rezipiert, nach deren Verständnis der Sufismus als spirituelle Erfahrung und universelle Wahrheit nicht zwingend zum Islam gehört. Diese Form des transethnischen „Neo-Sufismus“ hat bis heute Anhänger in Deutschland und ist unter orthodoxen sunnitischen Muslimen ein häufiger Grund, Sufismus als unerlaubte Neuerung der Religion (bidʿa) zu bewerten.
Seit den 1970er Jahren etablierten sich auch ältere islamische Sufi-Orden in Deutschland und in ganz Europa, deren Anhänger sich zwingend als Muslime verstehen und Beziehungen zu den jeweiligen Herkunftsländern pflegen. Die Haqqanīya (bzw. Naqshbandīya nach Scheich Nazim) gehören mit 500–600 Mitgliedern (Klinkhammer 2009) bzw. um die 5.000 Anhängern (Schleßmann 2003) sowie die Burhanīya mit ca. 500 (REMID 2008) zu den größeren Ordensgemeinschaften in Deutschland bei insgesamt weniger als 10.000 (Ordens-)Sufis. Der Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ) bezieht sich außerdem über die Lehre von Süleyman Efendi auf Elemente der Lehre der Naqshbandīya (24.000 Mitglieder bei 300 Vereinen 2010, ca. 80.000 mit Familienmitgliedern). Auch die Lehre der Hizmet-Bewegung nach Fethullah Gülen bezieht sich vereinzelt auf Sufi-Traditionen.
Seit 1964 in Deutschland vertreten ist der aus Java kommende Subud-Sufismus nach Muhammad Subuh Sumohadiwidjojo — von den Subud-Mitgliedern auch Bapak genannt (500 Mitglieder nach REMID 2012). Im Mittelpunkt steht die Übung des “Latihan kejiwaan” (indonesisch für „Übung der Seele“).
Schriften
Sifat. Zeitschrift für universalen Sufismus. Hrsg. von Marita Ischtar Dvorak und Wolfgang Huraksh Meuthen. Lüneburg.
Kontakt
- vikz.de. Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. Köln.
- osmanische-herberge.de. Karawane der Liebe e.V. Verein zur Vervollkommnung des menschlichen Charakters, Haqqani Trust, Naqshbandīya-Haqqanīya-Linie.
- burhaniya.info. Tariqa Burhaniya. Zentrum in der Lüneburger Heide.
- aisa.de / aisa-ong.org. Association Internationale Soufie Alawiyya (AISA).
- sufi-orden.de. Inayati-Orden Deutschland (DIO) e.V. Internationaler Sufi-Orden. Sekretariat in Altenriet.
- subud-deutschland.org. Subud Deutschland e.V. World Subud Association. Braunschweig.
Literatur
Frembgen, Jürgen W.: Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam. München: Beck 2000.
Klinkhammer, Gritt, Markus Dreßler und Ron Geaves (Hg.): Sufis in Western Societies. Global Networking and Locality. London: Routledge 2009.
Milani, Milad (Hg.), Zahra Taheri (Hg.), Aydogan Kars (Hg.): Female Mystics and the Divine Feminine in the Global Sufi Experience. Basel: MDPI, 2021.
Schimmel, Annemarie: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik. München: C.H. Beck 2014.
Schleßmann, Ludwig: Sufismus in Deutschland. Deutsche auf dem Weg des mystischen Islam. Köln: Böhlau 2003.
Autorin: Annika Bracht © REMID 2018
Überarbeitet Nizar Blass, 2023