Kurzinformation Religion: Afroamerikanische Religionen

Begriff

Die Sam­mel­beze­ich­nung Afroamerikanis­che Reli­gio­nen ist ein Ver­such von Religionswissenschaftler*innen und Ethnolog*innen, einen möglichst neu­tralen und nicht vorurteils­be­hafteten Aus­druck für eine Vielzahl von unter­schiedlichen Prak­tiken, Vorstel­lun­gen und Tra­di­tio­nen zu find­en, die in der Region Ameri­ka mit einem afrikanis­chen Hin­ter­grund beste­hen. Ältere Klas­si­fizierun­gen wie z. B. Kult (cult) ver­mit­teln oft eine Abw­er­tung und entstam­men Wertekat­e­gorien christlich­er Mis­sion­are. Prob­lema­tisch bleibt der Begriff, da die indi­an­is­chen, christlichen sowie teil­weise mus­lim­is­chen, eso­ter­ischen und son­sti­gen Ele­mente mit dem Adjek­tiv amerikanisch zusam­menge­fasst wer­den. Hier soll es dabei nur um diejeni­gen Tra­di­tio­nen gehen, die in ihrem Kern bere­its in Afri­ka bestanden. Diese wer­den irreführen­der­weise von manchen Autoren als Voodoo (Vodun, Wodu) beze­ich­net, obwohl es sich dabei nur um eine dieser Tra­di­tio­nen han­delt. Dieses aus der Sprache der Fon und der Ewe im Süden Benins und Togos stam­mende Wort für Schutzgeist meint in diesem Falt­blatt die auf Haiti ent­standene Tra­di­tion.

Geschichte

Die Vielfalt an afroamerikanis­chen Reli­gio­nen wurde in ihrer Entste­hung stark durch die Geschichte des Sklaven­han­dels bee­in­flusst. Ange­hörige unter­schiedlich­ster afrikanis­ch­er Eth­nien kamen in die Neue Welt und mussten sich in dieser Dias­po­ra-Sit­u­a­tion kul­turell neu find­en. Zwar kann man vere­in­fachend sagen, dass sich etwa auf dem südamerikanis­chen Fes­t­land und auf z. B. Kuba ins­beson­dere Vorstel­lun­gen und Prak­tiken der zen­tralafrikanis­chen Yoru­ba durch­set­zten, während auf Haiti eher die Ewe ihre Tra­di­tio­nen prägten. Doch stam­men viele einzelne Ele­mente afroamerikanis­ch­er Reli­gio­nen auch von anderen Eth­nien wie z. B. den Ban­tu aus Mit­tel- bis Südafri­ka. Die Sklav*innen aus Afri­ka stell­ten schließlich nur eine größere Gruppe inner­halb der auf den Plan­ta­gen beschäftigten Zwangsarbeiter*innen dar. Hier von Rel­e­vanz ist ins­beson­dere der Beitrag der indi­an­is­chen Reli­gio­nen, deren Tiergöt­ter mit den afrikanis­chen Ahnen assozi­iert wur­den und die den Tabak als zer­e­monielles Ele­ment ein­bracht­en.
Die unter­schiedlich inten­siv betriebene Chris­tian­isierung sowie das Ver­bot des Auslebens der eige­nen Kul­tur führten dazu, dass die afrikanis­chen “Göt­ter” bzw. “Geis­ter” bzw. “Ahnen” auch mit katholis­chen Heili­gen iden­ti­fiziert wur­den.
Neue Entwick­lun­gen bracht­en das Ende der Sklaverei und die Ein­führung von Reli­gions­frei­heit. Während Vor­re­it­er Haiti 1804 die Unab­hängigkeit erre­ichte und Voodoo bis 1840 als Staat­sre­li­gion galt, dauerte es auf Kuba noch fast ein Jahrhun­dert, bis nach der per­sön­lichen Frei­heit 1860 auch die religiöse 1976 einge­führt wurde. Auf dem Fes­t­land kon­nten — in Brasilien ab 1888 mit Ein­führung der Repub­lik — die Tra­di­tio­nen, dadurch dass sie sich nun freier ent­fal­ten kon­nten, wiederum auf Wurzeln besin­nen oder neue Ele­mente aufnehmen, so dass immer neue For­men bzw. Namen entste­hen. Ins­beson­dere der Einzug west­lich­er alter­na­tiv-spir­itueller Strö­mungen wie Spiritismus, Theoso­phie und Eso­terik inspiri­erten neue Tra­di­tion­swege, Rit­uale oder Vorstel­lun­gen.

Im Unter­schied zu den auf Offen­barung und heiliger Schrift auf­bauen­den Reli­gio­nen bes­timmt sich die Iden­tität über die regel­gerechte Ausübung der Prax­is und hierzu befähi­gen­den Ini­ti­a­tio­nen.

Wichtige Elemente der Praxis

Im Zen­trum ste­ht die “Arbeit” mit den “Göt­tern” bzw. “Geis­tern” bzw. “Ahnen” unter Anleitung von hier­ar­chisch geord­neten Spezial­is­ten. Zumeist bilden sich örtliche Zen­tren um eine Hohe­p­ries­terin und/oder einen Hohe­p­riester, dem Experten für bes­timmte Tätigkeit­en wie Ini­ti­a­tio­nen, Ein­leitung ein­er Arbeit, die für sie notwendi­ge Musik, Kräuter­fra­gen, Opfer, beson­dere Feiern, Rit­u­al- oder Orakel­tech­niken unter­ste­hen. Die wichtig­sten Uten­silien sind — je nach Aus­rich­tung — neben Trom­meln, Glock­en, Tri­an­gel und dem Schla­gin­stru­ment Agogô weiße und far­bige Krei­de, Opfer­mess­er, Tabakpfeifen, Rolltabak, Zigar­ren, Schnaps, Seifen, Weihrauchge­fäße, schwarze Tauben, rote und schwarze Hähne, Ochsen­blut und Kräuter.

Es gibt Arbeit­en, die nur in den Zen­tren durchge­führt wer­den dür­fen, und andere nur an Orten, die dem jew­eils ange­sproch­enen Gott oder Geist gewei­ht sind. Wiederum andere lassen sich über­all in den All­t­ag inte­gri­eren. Einige wie z. B. die Ini­ti­a­tio­nen oder die Arbeit­en zur Weit­er­en­twick­lung der zu beson­deren Trance-Zustän­den befähigten “Medi­en” bei der brasil­ian­is­chen Umban­da sind geheim, während die Prozes­sio­nen heutzu­tage große Volks­feste sind.
Eine Arbeit im Zen­trum gliedert sich zumeist in drei Phasen. Nach der Eröff­nungsz­er­e­monie, in welch­er der “Gott” / “Geist” Leg­ba (Haiti) oder Eschu / Exú (Brasilien/Kuba) als Hüter der Tore und Wege eine beson­dere Rolle spielt, fol­gt die eigentliche Sitzung. Je nach Aus­rich­tung der Tra­di­tion man­i­festieren sich in dieser “Göt­ter” oder Ahnen oder auch “Geis­ter” über jene in Trance ger­ate­nen Medi­en, die sich durch bes­timmte Tänze oder Reden zu erken­nen geben, Ratschläge verteilen oder heilen. Den Abschluss ein­er Arbeit bilden Riten zur Vor­bere­itung der Rück­kehr in den All­t­ag.

Eine Auswahl an größeren Traditionen

Es gibt eine unzäh­lige Vielfalt an Namen für Rich­tun­gen, Grup­pen oder Stile der “Arbeit”, die sich oft über­lagern kön­nen. Bei den im Fol­gen­den kurz angeris­se­nen Tra­di­tio­nen kann mit einiger Sicher­heit behauptet wer­den, dass es sich um eigen­ständi­ge Reli­gio­nen han­dele:

Voodoo (Vodun, Wodu): Die Hohe­p­ries­terin heißt hier man­bo, der Hohe­p­riester oun­gan. Die Göt­ter und Geis­ter wer­den als iwa (sprich: “loa”) beze­ich­net, es gibt eine höch­ste Got­theit Bondye (kre­olisch: Guter Gott). Die Geis­ter wer­den in zwei “Natio­nen” unterteilt, die san­ft­müti­gen rada und die lau­nis­cheren pet­wo / petro. Am weitesten ver­bre­it­et ist Voodoo auf Haiti, der Dominikanis­chen Repub­lik und in Louisiana.

San­tería (“Weg/Verehrung der Heili­gen”): Der Hohe­p­riester wird babal­a­wo genan­nt, unter ihm gibt es weib­liche und männliche san­teros (Priester). Im Zen­trum der Zer­e­monien ste­hen die orishas / orixas, ein Pan­theon von über 200 Göt­tern, an die Rit­uale, Sprüche, Opfer­gaben etc. gerichtet sind. Neben Kuba ist San­tería vor allem in Puer­to Rico, Venezuela, Kolumbi­en und Pana­ma anzutr­e­f­fen.

Can­domblé (“Ort der Arbeit”): Hier unter­ste­hen die babalao (Priester) der mae oder sel­tener dem pai de san­to (“Mut­ter / Vater des Weges / der Heili­gen”). Meis­tens ste­hen eben­falls die orishas / orixas als Göt­ter des Yoru­ba-Volkes im Mit­telpunkt, je nach lokaler Aus­prä­gung kön­nen aber auch “Natio­nen” aus den Tra­di­tio­nen der Ban­tu und Ewe ein­be­zo­gen sein. Diese Rich­tung find­et sich in Brasilien sowie in den Nach­bar­län­dern.

Umban­da: Zu dem Sys­tem des Can­domblé kom­men — ins­beson­dere durch den Ein­fluss von aus Europa kom­menden Spiri­tis­ten — Ahnen­rei­hen ver­schieden­ster Geis­ter, nach Eth­nien unter­schieden. Entschei­dende Neuerun­gen sind eine eigene Lit­er­atur, die Inte­gra­tion christlich­er Heilsvorstel­lun­gen in das Geis­ter­re­ich und eine umfassende the­ol­o­gis­che Sys­tem­a­tisierung unter Ein­bezug von Rit­ualen des Katholizis­mus wie etwa der Sakra­mente.

Verbreitung in Europa

In den Län­dern Europas begeg­nen uns ver­schiedene For­men afrikanis­ch­er und afroamerikanis­ch­er Art, über die lei­der keine genauen Zahlen vor­liegen. Der afrikanis­che Voodoo aus Togo oder Benin wird vornehm­lich pri­vat prak­tiziert. In Deutsch­land soll es ca. 1.000 Anhänger*innen geben. Viele dürften auch als Reli­gion­szuge­hörigkeit eine afrikanis­che christliche Kirche oder den Islam angeben. Zudem gibt es charis­ma­tis­che christliche Bewe­gun­gen, welche afrikanis­che Ele­mente inte­gri­ert haben. Die Öff­nung der Rit­uale für Weiße ist aber die Aus­nahme.

Etwas öffentlich­er sind afro­brasil­ian­is­che Reli­gio­nen, die aber auch durch die Dias­po­ra-Sit­u­a­tion geprägt sind. Ein Beispiel ist etwa das Berlin­er Casa de Oxum, in dem die Brasil­ianer­in Dal­va Rzep­ka Rit­uale sowohl aus der Tra­di­tion der Umban­da wie aus dem Can­domblé anbi­etet. San­tería oder haitian­is­ch­er Voodoo sind eher sel­ten. Die fehlende Organ­i­sa­tion­sstruk­tur hängt auch damit zusam­men, dass die Ini­ti­a­tio­nen in afroamerikanis­che Reli­gio­nen an das jew­eilige Zen­trum bzw. den/die Hohepriester*in bindet. Ini­ti­ierte jedoch kön­nen eigene Zen­tren eröff­nen. So bee­in­flussen in Europa tra­di­tionelle sowie selb­sterk­lärte Hohepriester*innen auch die neure­ligiöse Szene.

Neo-Voodoo, Schamanismus und Heidentum

Die Rezep­tion afroamerikanis­ch­er Reli­giosität im West­en ist von Anfang an geprägt von einem bes­timmten Außen­bild. Sir Spenser St. Johns Hayti or the black Repub­lic von 1884 spricht von ein­er “Reli­gion des Bösen”, von Men­schenopfern, Kan­ni­bal­is­mus, Voodoop­up­pen und Zom­bies. Spätestens seit den 1930er Jahren wieder­holen Filme aus dem Hor­ror-Genre diese falschen oder missver­stande­nen Klis­chees. Eine eth­nol­o­gis­che Aufar­beitung der The­matik begann erst Ende der 1950er.

Insofern waren es auch zunächst Okkul­tisten wie Austin Osman Spare (1886–1956), welche Rit­uale des Voodoo für den West­en auf­bere­it­eten, allerd­ings auf wenige elitäre Zirkel beschränkt. Weitaus pop­ulär­er und ver­bre­it­eter jedoch sind Anlei­hen aus der afroamerikanis­chen Kul­tur in der jün­geren Schaman­is­mus- und Neuhei­den­szene. Hier entste­ht ein west­lich­es “Voodoo”, das sich selb­st als Teil eines uni­ver­sal begrif­f­e­nen Schaman­is­mus oder der New-Age-Bewe­gung ver­ste­ht. Deren Anhänger ord­nen die afroamerikanis­chen Wesen­heit­en in ein all­ge­meines Sys­tem ein, wo sie gle­ich­berechtigt neben den schaman­is­tis­chen “Kraft­tieren” oder etwa keltischen Got­theit­en inte­gri­ert wer­den. Der Umgang mit ihnen ist in dieser Szene jedoch eher sym­bol­isch bzw. med­i­ta­tiv, Trancezustände wie in den Herkun­ft­slän­dern wer­den nur sel­ten angestrebt.
Von diesem “Neo-Voodoo” dis­tanzieren sich Anhänger afroamerikanis­ch­er Reli­gio­nen meis­tens inten­siv, ins­beson­dere dann, wenn Rit­uale etc. ohne Ini­ti­a­tion ange­boten wer­den bzw. diese bere­its in einem west­lichen Milieu erfol­gte. Das Wirken dieser Szene beste­ht mehr in ein­er eige­nen Lit­er­atur, über welche die Rit­uale ver­mit­telt wer­den. Eigene Grup­pen-Neu­bil­dun­gen, die erwäh­n­ten elitären Zirkel, gibt es lediglich in der okkul­tistis­chen Szene, z. B. den 1922 von Lucien-Fran­cois Jean Maine gegrün­de­ten magis­chen Orden La Couleu­vre Noire.

Literatur

Ulrich Fis­ch­er: Zur Liturgie des Umban­dakultes. Eine Unter­suchung zu den Kul­triten oder Amt­shand­lun­gen der synkretis­tis­chen Neure­li­gion der Umban­da in Brasilien; Lei­den: Brill 1970.
Dieter Fohr: Trance und Magie. Die afro­brasil­ian­is­chen Reli­gio­nen; München: Kösel 1997.
Miguel Bar­net: Afrokuban­is­che Kulte. Die Regla de Ocha, die Regla de Palo Monte; aus dem Span. von Ulrich Kun­z­mann; Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.
Mar­cus M. Jungkurth: Zos-Kia. Der Magi­er Austin Osman Spare und die Magie des Voodoo; Bergen 1988.
Angeli­na Pol­lak-Eltz: Trom­mel und Trance. Die afroamerikanis­chen Reli­gio­nen; Freiburg: Herder 1995.
Astrid Reuter: Voodoo und andere afro-amerikanis­che Reli­gio­nen; München: Beck 2003.
Lio­ba Ross­bach de Olmos / Bet­ti­na E. Schmidt (Hrsg.): Ideen über Afroameri­ka — Afroamerikan­er und ihre Ideen. Eth­nol­o­gis­che Per­spek­tiv­en zu afroamerikanis­chen Gesellschaften im Prozeß weltweit­er Ver­flech­tun­gen. (Rei­he Curupi­ra Work­shop, 9). Mar­burg: Curupi­ra 2001.

Autorin: Kris Wagen­seil. © REMID 2006.
Kurz­in­for­ma­tion Reli­gion “Afro-amerikanis­che Reli­gion” als PDF-Datei

Index