REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Der Fachverband Werte und Normen in Niedersachsen e.V. “verfolgt den allgemeinen Zweck, philosophische, gesellschaftswissenschaftliche und religionskundliche Bildung zu fördern, die auf den Wertmaßstäben und Normen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland basiert” (Satzung, Version von 2016). In der Ausgabe 2/2015 erörtert Prof. Dr. Dr. Peter Antes die Frage, inwiefern die dargelegte These, dass das Modell des konfessionellen Religionsunterrichtes “unter Druck” sei, eine “Chance für ein Alternativfach” bedeute. Der Autor ist emeritierter Professor der Religionswissenschaft (Hannover), wissenschaftlicher Beirat von REMID und hat den Eröffnungsvortrag auf unserer 25-Jahre-Jubiläumstagung 2014 mit dem Thema “Religionsfreiheit” gehalten (vgl. Die Sache mit der Religionsfreiheit. 25 Jahre REMID: Bericht zur Jubiläumstagung). Zum Thema Religionsunterricht hat REMID 2006 in Marburg die Tagung “Religionen in der Schule” veranstaltet, die verschiedenen Realisierungen von Religionsunterrichtsmodellen in den Bundesländern Deutschlands zusammengestellt und zuletzt Christina Wöstemeyer für eine von den “Säkularen Grünen” organisierte Diskussionsrunde “Religionsunterricht vs. Religionskundeunterricht: Gehört konfessioneller Unterricht an die Schule?” vermittelt (Mai 2015). Lesen Sie nun den Artikel von Peter Antes als Gastbeitrag im REMID-Blog — mit freundlicher Genehmigung des Autoren und des Fachverbandes Werte und Normen in Niedersachsen.
Europaweit hat in den letzten Jahren die Diskussion um die zunehmende Pluralität der Gesellschaft zugenommen. Zum einen bedeutet dies, dass nicht nur das Christentum die öffentliche Diskussion bestimmt, sondern auch der Islam und des weiteren das Judentum, der Hinduismus und der Buddhismus ins Bewusstsein der Menschen getreten sind [man vgl. auch die REMID-Statistik der Religionen und Weltanschauungen in Deutschland; Anm. Red.]. Regional kommen noch andere Religionsgemeinschaften vor: die Sikhs in Großbritannien oder die Jesiden in Deutschland, insbesondere in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen [man vgl. die REMID-Kurzinformation “Yezidentum” und das Interview “Als Religionswissenschaftler ein Projekt in Kurdistan-Irak leiten? REMID-Interview mit Dr. Michael Blume”: Anm. Red.]. Auch hinsichtlich des Christentums ist die Sache nicht mehr so einfach wie früher. In Mittel- und Westeuropa bleibt es nicht bei der katholischen Kirche oder dem Protestantismus, sondern durch Zuwanderung und neuerdings als Folge von Flüchtlingen sind auch die Orthodoxen und die Orientalischen Kirchen bei uns präsent. Infolge dessen gibt es in nahezu jeder größeren Stadt heute eine solche Fülle von Religionsgemeinschaften und Kirchen, wie sie früher allenfalls den Spezialisten bekannt waren. Es genügt hierfür der Verweis auf die Ausstellung „Gesichter der Religionen“, die in Niedersachsen als Wanderausstellung (Eröffnung am 18. Januar 2016 in Wolfsburg) gezeigt wird und deutlich macht, dass zur Vielfalt der Religionen noch eine interne Vielfalt in einer jeden der großen Religionen (Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam und Judentum) hinzu kommt, die alles übertrifft, was bislang selbst ihren Anhängern bewusst gewesen ist, wie es der Katalog zur Ausstellung unmissverständlich hervorhebt.
Die enorme Vielfalt im religiösen Spektrum reicht jedoch nicht aus, die Wirklichkeit als ganze zu erfassen. Hinzu kommt hier die breitgefächerte Weltanschauungsvielfalt derer ohne Religion. Sie reicht vom dezidiert atheistischen Bekenntnis über agnostische Positionen bis zu denen, denen Religion und ihre Inhalte gar nichts mehr sagen und die sich folglich in einer total säkularisierten Welt heimisch fühlen (vgl. dazu Peter Antes: Leben in einer total säkularisierten Welt, in: Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive, hrsg. von Steffen Führding u. Peter Antes, Göttingen: V&R unipress 2013, S. 59–70).
All diese Tatsachen haben Rückwirkungen auf die Diskussion über den konfessionellen Religionsunterricht in vielen europäischen Ländern sowie bisweilen auch auf die über seine Alternativen.
Fünf Beispiele sollen dies im Folgenden zeigen:
1. Luxemburg
Im Großherzogtum Luxemburg wurde am 26. Januar 2015 per Gesetz der bis dahin bestehende konfessionelle Religionsunterricht sowie sein alternatives Pendant an Grundschulen und in den Sekundarschulen abgeschafft und durch einen gemeinsamen Werteunterricht ersetzt.
“Die während der Gespräche des liberalen Erziehungsministers mit der Kirche, aber auch mit den Vertretern des heutigen Alternativfaches „moralische und soziale Bildung“ sowie gesellschaftlichen Pro- und Kontra-Gruppen entstandene Definition eines neuen und gemeinsamen Faches zeigt das Ergebnis und den gefundenen Kompromiss. Hauptziel des Werteunterrichts soll es sein, das Erleben der Schüler und ihre Suche nach Sinn schrittweise ebenso mit den großen Menschheitsfragen wie mit den verschiedenen Antworten und Ansätzen zu konfrontieren. Als Quelle für die Antwortelemente werden die philosophische und ethische Reflexion ebenso genannt wie die großen religiösen und kulturellen Traditionen.
Um sicher zu stellen, dass das hochumstrittene neue Fach auf möglichst breite Zustimmung stoßen wird, sollen von seiner Ausarbeitung an durch eine entsprechende nationale Programmkommission neue Methoden der Mitsprache und des Mitwirkens der Zivilgesellschaft entwickelt werden. In diesem Zusammenhang wird denn auch das bereits genannte Mitwirken des Rates der konventionierten Religionsgemeinschaften als Selbstverständlichkeit hingestellt.“ (vgl. S. 30 in: Erny Gillen: Neue Verhältnisse in Luxemburg. Zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Zu den neuen Konventionen vom 26. Januar 2015, Berlin 2015; gesichtet am 14.08.2015).
Die Übernahme der bisherigen Religionslehrer*innen für die Erteilung des neuen gemeinsamen Werteunterrichts wird vom Ministerium zugesichert. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass aus der Not geboren ein neues Gremium: der Rat der konventionierten Religionsgemeinschaften geschaffen wurde, der dem monotheistischen Bekenntnis mehr Gewicht verleihen soll:
„Die implizite und explizite Anerkennung des Rates der konventionierten Religionsgemeinschaften stellt die Beziehungen zwischen dem Luxemburger Staat und den Religionsgemeinschaften auf eine völlig neue Basis. Die katholische Kirche ist eine Religionsgemeinschaft unter den anderen, wenn auch bei weitem die stärkste. Sie steht nicht mehr als Modell für die anderen Religionen, die sich den Verhältnissen anpassen, sondern teilt die neuen Verhältnisse mit den anderen. Die neu erreichte Gleichheit unter den Religionsgemeinschaften und in ihrem Verhältnis zum Staat wird sicherlich auch zu einer gesellschaftlichen Entkrampfung beitragen. Dass die islamische Religionsgemeinschaft einbezogen werden konnte, stellt sicherlich einen Erfolg für die Regierung und die Religionsgemeinschaften dar. Dieser historische Schritt wurde in der Luxemburger Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, weil die abgelösten traditionellen Verhältnisse zwischen katholischer Kirche und Staat die Presse und das öffentliche Bewusstsein noch immer prägen. Während nach den Attacken auf Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015 in Paris und den Anschlägen vom 14. Februar 2015 in Kopenhagen die Frage nach Religion und Gesellschaft in ganz Europa blutig und neu aufgeflammt ist und sich alle Augen kritisch auf den Islam als Religion und gesellschaftliche Kraft richteten, wurde im Großherzogtum ein neues Miteinander der drei abrahamitischen Religionen und des Luxemburger Staates besiegelt.“ (ebd., S. 28f.).
Auch wenn die Umsetzung des neuen Konzepts bislang noch auf sich warten lässt, darf die Tatsache, den katholischen Religionsunterricht aufzugeben und ein neues Fach einzuführen, als solche schon als bezeichnender Vorgang einer gesellschaftlichen Tendenz gewertet werden, die es verdient, zur Kenntnis genommen zu werden.
2. Frankreich
Bekanntlich gibt es in Frankreich keinen Religionsunterricht an staatlichen Schulen und dementsprechend auch keinen Alternativunterricht für die Schülerinnen und Schüler, die sich davon abmelden. Die einzige Ausnahme von dieser Regel sind das Elsass und Lothringen, wo bis heute das napoleonische Konkordat die Beziehungen zwischen Staat und Kirche regelt, weil diese Regionen 1905, als das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche in Frankreich erlassen wurde, deutsch waren und somit die Anwendung des Gesetzes für sie nicht galt. Deshalb wird bis heute in Elsass-Lothringen wie in Deutschland konfessioneller Religionsunterricht erteilt. Schülerinnen und Schüler, die daran nicht teilnehmen, sind stattdessen zur Teilnahme an einem obligatorischen Ethikunterricht verpflichtet.
Die Laizisten in Frankreich haben nun im Mai 2015 eine Revision dieses Unterrichtsmodells gefordert. Sie wollen den konfessionellen Religionsunterricht abschaffen, ihn allenfalls als Option für die, die das wollen, bestehen lassen. Sie wenden sich ebenfalls gegen einen obligatorischen Ethikunterricht und sind von daher bestrebt, die seit 1918 geltende Praxis in Elsass-Lothringen der im übrigen Frankreich geltenden anzugleichen.
3. Spanien
Mit dem Argument „Glaubensüberzeugungen sind keine Wissenschaft und dürfen nicht als Unterrichtsstunden erteilt werden“ forderte im August 2015 die spanische Oppositionspartei PODEMOS die Abschaffung des Religionsunterrichtes an staatlichen Schulen und im Zusammenhang damit eine Änderung des Konkordates (vgl. dazu Sato Díaz: Eliminar la Religión de la enseñanza pública, la propuesta programática educativa más apoyada en Podemos, Cuarto Poder, 12. Aug. 2015; gesichtet am 14.8.2015). Schon jetzt hat diese Partei regional eine deutliche Reduktion der Religionsstunden in der Grundschule durchgesetzt. Von einem Alternativfach ist allerdings in ihrem Programm keine Rede.
4. Schweiz
Zum Religionsunterricht in der Schweiz heißt es in Wikipedia (gesichtet am 14.8.2015):
„Stand 2014
Religion wird heutzutage stark als Privatsache angesehen. Dies hat zur Folge, dass die Tendenz eher weg vom konfessionellen Unterricht, hin zu einem allgemeinen Kulturunterricht geht. Momentan ist der Religionsunterricht weiterhin von Kanton zu Kanton, ja gar von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Deshalb herrscht auch ein Begriff-Wirr-War: Biblische Geschichte, Ethik und Religionen, Ethik und Religion, Religion, Religion und Kultur und Religionskunde und Ethik sind nur einige Bezeichnungen für das Fach in der Schweiz. Neuere Bemühungen, allgemein gültige Kompetenzen mit dem Lehrplan 21 festzulegen, treten dem entgegen. Momentan ist auch die Vielfalt an Lehrmitteln relativ gross. Es zeigt sich jedoch der Trend, dass andere Religionen in den neueren Schulbüchern stärker berücksichtigt werden. Wie die zukünftige Stellung des Religionsunterrichts in der Schweiz aussehen wird, ist noch offen, «…auch wenn sich abzeichnet, dass das Fach in einem eigenen Fächerverbund ‹Ethik-Religion-Gemeinschaft› einrückt…»(Schlag, 2013, S. 139; [der Literaturhinweis im zitierten Text bezieht sich auf Thomas Schlag: Religiöse Bildung an Schulen in der Schweiz; in: Religiöse Bildung an Schulen in Europa. Teil 1: Mitteleuropa, hrsg. von Martin Jäggle, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Göttingen: V&R unipress, 2013; Anm. P.A.]).
Gründe für die Veränderungen im schulischen Religionsunterricht
Um die Entwicklung des Religionsunterrichts zu verstehen, muss man sich laut Schlag (2013) einiger Veränderungen in der Gesellschaft bewusst werden. Der heutige Trend geht in eine Dualisierung der Religionen. Die zwei Pole institutionelle und universale Religion haben zur Folge, dass Religion in einem Spannungsfeld steht. Die universale Religion ist ein Mix aus vielen verschiedenen Glaubensrichtungen, wie sie auch durch die Massenmedien propagiert werden. Durch die unterschiedlichen Elemente entsteht ein Patchwork, welches nicht mehr institutionell verankert ist. Dieses Phänomen ist quer durch alle Generationen zu finden. Die Mitglieder der institutionellen Religion, identifizieren sich hingegen mit der Kirche und ihren Werten und zeigen auch Engagement in ihrer Religion. Rund 70 % der 16 – 25-jährigen Menschen sind der Meinung, dass für sie kein Platz in der Kirche sei. Sie wünschen sich eine Religion, die sich für die Armen und Hilfsbedürftigen auf dieser Welt einsetzt, die jedoch nicht an institutionelle Strukturen gebunden ist. Diese Vorstellung kommt einer Utopie gleich. Schlag (2013) begründet dieses Denken mit den guten wirtschaftlichen Verhältnissen der Schweiz. Die Jugendlichen von heute begeben sich auf lange Reisen und sehen diesen Umstand als relativ selbstverständlich an. Daraus entstehen Begegnungen mit andern Religionen und Kulturen, die bei vielen Jungen Interesse und Toleranz wecken. Dem gegenüber stehen die traditionellen Grosskirchen, die ein konservatives Image haben. Ausserdem entwickeln wir uns seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft. Es herrscht eine grosse Vielfalt auf relativ kleinem Raum, welcher auch im schulischen Religionsunterricht begegnet werden soll.“
In der Praxis bedeutet dies konkret, dass etwa im Kanton Basel-Stadt oder Zürich alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse im Klassenverband von derselben Lehrkraft gemeinsam unterrichtet werden.
5. Rumänien
Seit 2014 wurde gegen den Widerstand der Orthodoxen Kirche auf Betreiben der Humanisten durchgesetzt, dass die Teilnahme am konfessionellen Religionsunterricht in der Schule durch Anmeldung zu ihm („opt-in“) und nicht wie vorher durch Abmeldung von ihm („opt-out“) erfolgt. Zudem wurden durch staatliche Überprüfung alle die Religionslehrbücher moniert bzw. aus dem Verkehr gezogen, in denen Intoleranz gegenüber Andersdenken gelehrt wird.
Fazit
Die fünf Beispiele zeigen, dass in allen genannten Fällen der traditionell konfessionelle Religionsunterricht aufgrund zunehmender religiöser wie gesellschaftlicher Pluralität in Frage gestellt wird. Die Beispiele zeigen aber auch, dass daraus nicht überall dieselben Konsequenzen hinsichtlich dessen gezogen werden, ob etwas an seine Stelle treten soll. Selbst wenn man von Frankreich, Spanien und Rumänien, die ohne solche Alternativvorschläge auskommen, einmal absieht, fällt die Alternative jeweils anders aus, ob es sich um einen allgemeinen Werteunterricht wie im Großherzogtum Luxemburg oder um Formen von Religion und Kultur wie vielfach in der Schweiz handelt. Das denkbare Ende des konfessionellen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen bedeutet folglich noch lange nicht, dass die Chancen für ein Alternativfach als verpflichtendes Unterrichtsfach dadurch steigen. Um dies zu erreichen, muss in zahlreichen europäischen Ländern noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Dr. Dr. Peter Antes ist emeritierter Professor für Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Zuerst erschienen in Nr. 2/2015 der Mitgliederzeitschrift des Fachverbandes Werte & Normen in Niedersachsen. Bearbeitung und Einleitung von Kris Wagenseil.
Ich bin Gymnasiallehrer für bekenntnisneutrale Religionskunde an der Kantonsschule Alpenquai Luzern und möchte darauf hinweisen, dass der Kanton Luzern Pionier im deutschsprachigen Raum für bekenntnisneutrale Religionskunde ist.
In Hamburg ist der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen ein Religionsunterricht für alle. Ich habe als Gymnasiallehrer evangelische, katholische, baptistische, neuapostolische, muslimische Schüler unterrichtet, sogar Zeugen Jehovas, vor allem aber Schüler, die keiner organisierten Religionsgemeinschaft angehörten ( in Hamburg circa 40%). Und das funktionierte durchaus. Seit meiner Pensionierung setze ich mich für eine aufgeklärte Welteinheitsreligion ein, die keine Organisationsform hat und es erlaubt, einer frei gewählten oder auch gar keiner Religionsgemeinschaft anzugehören.
Sehr geehrter Herr Schläfke,
meiner Ansicht nach ist das von ihnen angestrebte Ziel schon erreicht: In unserem Land ist es möglich seine Religionsgemeinschaft frei zu wählen oder auch gar keiner anzugehören.
Freundliche Grüße.