Das Weltreligionenparadigma im Werte und Normen Unterricht: Eine kritische Analyse ausgewählter Schulbücher

Wird das Lehr­ma­te­r­i­al den Ansprüchen an das säku­lare Schul­fach gerecht?

In mein­er Mas­ter­ar­beit mit dem oben genan­nten Titel habe ich unter­sucht, ob und auf welche
Weise das eurozen­trisch-christlich geprägte Konzept der „Weltreligion/en“ in Lehr­ma­te­ri­alien
für das Schul­fach Werte und Nor­men Anwen­dung find­et und welche Auswirkun­gen dies hat.
Die Arbeit wurde am Insti­tut für Reli­gion­swis­senschaft der Leib­niz Uni­ver­sität Han­nover unter
der Betreu­ung von Prof. Dr. Wan­da Alberts und Christi­na Wöste­mey­er ver­fasst.

Forschungsfrage und Problemstellung

Die Forschung umfasst die kri­tis­che Analyse eines aus­gewählten Schul­buchkapi­tels und des
dazuge­höri­gen Lehrerbands für Werte und Nor­men hin­sichtlich der enthal­te­nen Darstel­lun­gen
von Religion/en. Der Fokus der Unter­suchung liegt dabei auf ein­er Ver­ankerung dieser
Darstel­lun­gen im impliz­it christlich-the­ol­o­gisch und kolo­nial geprägten
Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­ma (im Fol­gen­den mit “WRP” abgekürzt).

Unter­richts­ma­te­ri­alien haben einen direk­ten Ein­fluss auf die Konzepte, welche Schüler*innen von Religion/en entwick­eln. Um ihnen eine Per­spek­tive auf den The­menge­gen­stand zu eröff­nen, welche die Vielfalt, Kom­plex­ität und Dynamik dieser abbildet, soll die Notwendigkeit betont wer­den, dass in
Lehr­ma­te­ri­alien für Werte und Nor­men ein reli­gion­skundlich und reli­gion­swis­senschaftlich
fundiert­er Ansatz ver­fol­gt wird. Im Kern­cur­ricu­lum für Werte und Nor­men wird zudem „die
weltan­schauliche und religiöse Neu­tral­ität des Fach­es“ (Nieder­säch­sis­ches Kul­tus­min­is­teri­um
2017: 6) her­vorge­hoben.

Warum ist das WRP problematisch?

Das WRP wird im reli­gion­swis­senschaftlichen Diskurs bere­its seit Ende der 1970er-Jahre
kri­tisch hin­ter­fragt und disku­tiert (vgl. Smith 1978), da es eine Def­i­n­i­tion von Religion/en ent­lang eines christlich geprägten Welt­bilds voraus­set­zt. Das WRP stellt ein Klas­si­fika­tion­ssys­tem dar, indem es typ­is­cher­weise die „fünf großen Wel­tre­li­gio­nen“ – das Chris­ten­tum, das Juden­tum, den Islam, den Hin­duis­mus und den Bud­dhis­mus – umfasst und Reli­gio­nen und Weltan­schau­un­gen nach christlichen Maßstäben bew­ertet und hier­ar­chisiert.

Die Sprach­muster des WRP tra­gen somit dazu bei, soziale Ungle­ich­heit­en zu legit­imieren und zu repro­duzieren (vgl. Cot­ter und Robert­son 2016: 2). Wird das Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­ma als eine Art Puz­zle betra­chtet, wer­den inner­halb des Par­a­dig­mas lediglich bes­timmte Puz­zleteile von Reli­gio­nen aus­gewählt und zusam­menge­set­zt, während andere ignori­ert wer­den. Auf diese Weise wer­den religiöse Tra­di­tio­nen und Glaubenssys­teme nach west­lich-christlichen Werten umgestal­tet und verz­er­rt bzw. unvoll­ständig repräsen­tiert.

Analyseergebnisse

Im Kon­text mein­er Mas­ter­ar­beit habe ich ein Kapi­tel eines an nieder­säch­sis­chen Schulen
aktuell ver­wen­detes Lehrbuchs (Pfeif­fer 2020: 150–185) zum The­ma Religion/en sowie den
dazuge­höri­gen Lehrerband (Pfeif­fer 2019: 64–79) analysiert. Die kri­tis­che Diskur­s­analyse bildete den method­is­chen Rah­men der Analyse. Dieser Ansatz ermöglichte neben ein­er detail­lierten Betra­ch­tung der Tex­tebene des aus­gewählten Schul­buchkapi­tels zusät­zlich die Unter­suchung sozialer und poli­tis­ch­er Hin­ter­gründe, welche für die Pro­duk­tion des Lehrbuchs von Bedeu­tung waren.

Durch einen Ver­gle­ich des Schul­buchs, welch­es im Jahr 2020 in Erstau­flage im Mil­itzke Ver­lag erschienen ist, mit dem im Jahr 2014 veröf­fentlichen Werte und Nor­men Schul­buch des Ver­lags fiel zunächst auf, dass der Auf­bau sowie die Inhalte bei­der Lehrbuchkapi­tel größ­ten­teils iden­tisch waren. In Anbe­tra­cht des im wis­senschaftlichen Diskurs aktuellen The­mas des WRP sollte kri­tisch reflek­tiert wer­den, dass im sechs Jahre später erschiene­nen Lehrw­erk zum The­men­bere­ich Religion/en kein­er­lei inhaltliche Neuerun­gen erfol­gten.

Die anschließend vorgenommene Analyse lieferte teils gravierende Erken­nt­nisse – das Kapi­tel war bere­its in seinem Grun­dauf­bau prob­lema­tisch. Es the­ma­tisierte lediglich drei Reli­gio­nen (Chris­ten­tum, Juden­tum, Islam), wodurch nicht nur alle weit­eren Reli­gio­nen, son­dern auch säku­lare Weltan­schau­un­gen aus­geschlossen wur­den. Die spez­i­fis­che Auswahl seit­ens der Autorin blieb unkom­men­tiert. Es erfol­gte außer­dem eine ungle­ich­w­er­tige Abbil­dung der drei aus­gewählten Reli­gio­nen.

In der Darstel­lung des The­menge­gen­stands diente das Chris­ten­tum als eine Art Muster­beispiel, wobei ein religiös­es Vor­wis­sen impliz­it voraus­ge­set­zt wurde. Dem WRP fol­gend wurde mit­tels der Darstel­lung von Religion/en ein christlich­west­lich geprägtes Reli­gionsver­ständ­nis deut­lich. Mus­lime wur­den expliz­it als die „Ander­s­gläu­bi­gen“ (vgl. Pfeif­fer 2020: 184) und der Islam als etwas „der vie­len fremd erscheint“ (vgl. Pfeif­fer 2019: 64) beschrieben, wodurch ein christlich-west­lich­es „wir“ voraus­ge­set­zt und ein­er mus­lim­is­chen Tra­di­tion gegenübergestellt wurde. Die Darstel­lun­gen des Islams fol­gten somit ein­er Logik der Grenzziehung und resul­tierten in ein­er Fremd- und Selb­st­po­si­tion­ierung.

Fazit

Um ein Ver­ständ­nis von Religion/en zu fördern, welch­es über das WRP hin­aus geht, ist es notwendig, die „chris­tozen­trische Brille“, welche Wahrnehmungs- und Selek­tion­s­mech­a­nis­men bee­in­flusst, zu reflek­tieren. Eine reli­gion­swis­senschaftlich fundierte und kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit Lehr­ma­te­ri­alien kann somit dazu beitra­gen, Missver­ständ­nisse abzubauen und zu ver­hin­dern, dass Vorurteile gegenüber bes­timmten religiösen Grup­pen und Weltan­schau­un­gen repro­duziert wer­den.

Für Inter­essierte: Die kom­plette Mas­ter­ar­beit kann über die Leib­niz Uni­ver­sität Han­nover als PDF herun­terge­laden wer­den.

Julia Beck­er, M.A.

Literaturliste

Beck­er, Julia. Das Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­ma im Werte und Nor­men Unter­richt: Eine kri­tis­che
Analyse aus­gewählter Schul­büch­er. Han­nover: Got­tfried Wil­helm Leib­niz Uni­ver­sität,
Mas­ter The­sis, 2023, https://www.repo.unihannover.
de/bitstream/handle/123456789/13966/Masterarbeit_Becker.pdf?sequence=1

Cot­ter, Christo­pher R., und David G. Robert­son. „Intro­duc­tion: The world reli­gions par­a­digm
in con­tem­po­rary reli­gious stud­ies.“ After World Reli­gions, Rout­ledge, 2016, S. 1–20.
Nieder­säch­sis­ches Kul­tus­min­is­teri­um. Kern­cur­ricu­lum für das Gym­na­si­um Schul­jahrgänge 5-
10: Werte und Nor­men, Han­nover, 2017.
Pfeif­fer, Silke. WuN 5/6: Werte Nor­men Weltan­schau­un­gen, Lehrerband. Magde­burg: Mil­itzke
Ver­lag, 2019.
Pfeif­fer, Silke. WuN 5/6: Werte Nor­men Weltan­schau­un­gen, Lehrbuch. Magde­burg: Mil­itzke
Ver­lag, 2020.
Smith, Jonathan Z. Map is not Ter­ri­to­ry: Stud­ies in the His­to­ry of Reli­gions. Lei­den: Brill, 1978.

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