Warum die Ver­wen­dung des Begriffs “Sek­te” prob­lema­tisch ist: Ein reli­gion­swis­senschaftlich­er Blick auf Neue Religiöse Bewe­gun­gen

In der Reli­gion­swis­senschaft wird die Ver­wen­dung des Begriffs “Sek­te” kri­tisch betra­chtet. Dieser Aus­druck trägt eine abw­er­tende Kon­no­ta­tion und kann zu Missver­ständ­nis­sen führen. Stattdessen bevorzu­gen viele Expert*innen den neu­traleren Begriff “Neue Religiöse Bewe­gun­gen” (NRB), der ein genaueres und sach­licheres Ver­ständ­nis ermöglicht.

  • Abw­er­tende Kon­no­ta­tion: Der Begriff “Sek­te” wird oft im öffentlichen Diskurs und in den Medi­en ver­wen­det, um religiöse Grup­pen zu kennze­ich­nen, die als abwe­ichend oder möglicher­weise gefährlich betra­chtet wer­den. Dies führt zu Vorurteilen und Stig­ma­tisierung gegenüber diesen Grup­pen, was nicht mit dem Ziel der wert­freien Analyse in der Reli­gion­swis­senschaft vere­in­bar ist.
  • Wan­del­nde Bedeu­tung des Begriffs: Im Laufe der Zeit hat der Begriff “Sek­te” eine neg­a­tive Verän­derung sein­er Bedeu­tung erfahren und wird häu­fig unge­nau und unsachgemäß angewen­det. Dies kann zu Ver­wirrung führen, da er ver­schiedene Assozi­a­tio­nen und Kon­no­ta­tio­nen in ver­schiede­nen kul­turellen Kon­tex­ten hat.
  • Wis­senschaftliche Neu­tral­ität: In der Reli­gion­swis­senschaft strebt man nach ein­er neu­tralen und objek­tiv­en Unter­suchung religiös­er Phänomene, ohne vor­ein­genommene oder abw­er­tende Begriffe zu ver­wen­den. “Neue Religiöse Bewe­gun­gen” ist ein neu­tralerer Begriff, der es ermöglicht, diese Grup­pen objek­tiv­er zu erforschen und zu ver­ste­hen.

Ver­schiedene Quellen in der Reli­gion­swis­senschaft, wie das “Hand­buch der Reli­gio­nen” von Huber und Klöck­er (2007), sowie Artikel wie “Sek­ten: Kri­tis­che Bemerkun­gen zur Ver­wen­dung des Begriffs” von Schrein­er (2009), the­ma­tisieren diese Prob­lematik und unter­stre­ichen die Notwendigkeit, neu­tralere Begrif­flichkeit­en in der Erforschung von religiösen Bewe­gun­gen zu ver­wen­den.

Wie “neu” sind “Neue Religiöse Bewe­gun­gen”?

Die Beze­ich­nung “Neue Religiöse Bewe­gun­gen” (NRB) umfasst eine bre­ite Vielfalt von religiösen Grup­pierun­gen, die im Ver­lauf des 20. und 21. Jahrhun­derts ent­standen oder an Bedeu­tung gewon­nen haben. Der Begriff umfasst religiöse Bewe­gun­gen, die seit etwa 1800 ent­standen sind. Hierzu gehören auch Grup­pierun­gen, die in den 60er, 70er, 80er oder 90er Jahren des 20. Jahrhun­derts oder sog­ar erst in den let­zten Jahren des 21. Jahrhun­derts aufge­treten sind sowie solche, die möglicher­weise erst vor Kurzem ent­standen sind.

Der Gebrauch des Begriffs “Sek­te” im Ver­lauf der Geschichte

Ursprünglich wurde der Begriff in der Antike eher wert­neu­tral ver­wen­det, um Anhänger ein­er spez­i­fis­chen Schule oder poli­tis­chen Rich­tung zu beschreiben. Im Mit­te­lal­ter jedoch fand der Begriff haupt­säch­lich Ver­wen­dung, um Abspal­tun­gen oder als “Irrlehren” wahrgenommene Rich­tun­gen zu kennze­ich­nen. Diese neg­a­tive Kon­no­ta­tion des Begriffs set­zte sich bis in die Mod­erne fort — beson­ders in Deutsch­land, da etablierte religiöse Insti­tu­tio­nen ihn ver­wen­de­ten, um von ihren Lehren abwe­ichende Ansicht­en abzuw­erten. Dies führte zur Stig­ma­tisierung und Vorurteilen gegenüber spez­i­fis­chen religiösen Grup­pen.

Bis heute gel­ten kirch­lich geprägte Schriften auch für staatlichen Insti­tu­tio­nen in der öffentlichen Debat­te als wichtige Infor­ma­tion­squellen über neue religiöse Bewe­gun­gen.

Sek­ten­de­bat­te in Deutsch­land und Enquete-Kom­mis­sion

Die Sek­ten­de­bat­te wurde in den 70er bis späten 90er Jahren des 20. Jahrhun­derts in der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land mit ein­er bemerkenswerten emo­tionalen Beteili­gung geführt. An der Diskus­sion beteiligt waren vor allem die evan­ge­lis­che und katholis­che Kirche, Medi­en und Journalist*innen und staatlichen Stellen — wis­senschaftliche Posi­tion­ierun­gen wur­den sel­ten und wenn dann eher am Rande beachtet.

Einige Lan­desämter für Ver­fas­sungss­chutz ver­sucht­en in ihren Bericht­en, bes­timmte religiöse Grup­pen als “Sek­ten” zu klas­si­fizieren oder zu charak­ter­isieren. Des Weit­eren gab es Enquete-Kom­mis­sio­nen auf Bun­des- und Lan­desebene, die sich mit dem The­ma “Soge­nan­nte Sek­ten und Psy­chogrup­pen” beschäftigten und Kri­te­rien für den Umgang mit neuen religiösen Bewe­gun­gen zu definieren ver­sucht­en.

End­bericht der Enquete-Kom­mis­sion „Soge­nan­nte Sek­ten und Psy­chogrup­pen” (PDF Down­load, 1998)

Aber auch religiöse Bewe­gun­gen wie die Shree Rajneesh‑, Bhag­wan- bzw. Osho-Bewe­gung ver­sucht­en, gegen die staatliche Einord­nung als „Sek­te“, „Jugen­dreli­gion“, „Jugend­sek­te“ und „Psy­chosek­te“ und die damit ein­herge­hende Abw­er­tung vorzuge­hen. Nach jahre­lan­gen Rechtsstre­its wies das Bun­desver­fas­sungs­gericht 2002 zwar eine Ver­fas­sungs­beschw­erde der Osho-Bewe­gung ab, emp­fahl jedoch mit Blick auf den Bericht der Enquete-Kom­mis­sion, dass staatliche Stellen diese Begriffe, auch wenn sie ver­fas­sungsrechtlich unbe­den­klich seien, nicht mehr ver­wen­den soll­ten.

Beschluss des Ver­fas­sungs­gericht­es vom 26. Juni 2002

Bis heute existieren soge­nan­nte “Sek­ten­beauf­tragte”, die als Mitarbeiter*innen für das Bun­desver­wal­tungsamt (BVA) tätig sind. Das Refer­at dient dem Bund-Län­der-Gespräch­skreis “soge­nan­nte Sek­ten und Psy­chogrup­pen” als koor­dinierende Geschäftsstelle. Eben­so gibt es die “Ständi­ge Inter­min­is­terielle Arbeits­gruppe zur Koor­dinierung und Bün­delung der Aktiv­itäten von Bund und Län­dern in Bezug auf die Sci­en­tol­ogy-Organ­i­sa­tion”, die 1996 vom Bun­deskan­zler und den Regierungschefs der Län­der ein­berufen wurde.

Die Grün­dung von REMID e.V. als Reak­tion auf die Sek­ten­de­bat­te

Die Grün­dung von REMID e.V. 1989 geschah nicht zulet­zt als Reak­tion von Religionswissenschaftler*innen, die gegen die Nutzung des Begriffs und gegen die ein­seit­ig geführte öffentliche Debat­te argu­men­tierten. Der Vere­in spielte eine wesentliche Rolle als Plat­tform für wert­freie Infor­ma­tio­nen und Diskus­sio­nen zu religiösen Bewe­gun­gen. REMID e.V. set­zt sich weit­er­hin für eine präzis­ere und dif­feren­ziert­ere Ter­mi­nolo­gie ein, um eine fundierte Diskus­sion über religiöse Phänomene zu fördern — deshalb ver­wen­den wir den Begriff “Sek­te” bis heute expliz­it nicht.

Mehr zur Grün­dung des Vere­ins in unserem Blog:

Das 2015 von REMID geführte Inter­view “In Sek­ten”? Religiös­er Nonkon­formis­mus als Aus­lös­er kul­tureller Dynamik – aktuelle Ansätze in der Reli­gions­forschung” beleuchtet dama­lige Ansätze in der Reli­gions­forschung und hin­ter­fragt die Ver­wen­dung des Begriffs “Sek­te”. Es bietet Ein­blicke in die kul­turelle Dynamik, die durch religiösen Nonkon­formis­mus entste­hen kann.

Mona Stumpe (2023)

siehe auch:

Lida Fror­iep: Die Debat­te um Neue Religiöse Bewe­gun­gen in der BRD — Kirch­liche Deu­tungsmuster und die Rolle der Reli­gion­swis­senschaft (2007)