REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Eva Spies (Religionswissenschaft) und Magnus Echtler (Ethnologie), beide Universität Bayreuth stehen REMID Frage und Antwort zu den religionsbezogenen Fragestellungen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) zum Thema “Ende der Aushandlungen?”.
Im Herbst tagte die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie zum Thema “Ende der Aushandlungen?”: “Dass Wirklichkeitskonstruktionen und Bedeutungszuschreibungen sozial verhandelt werden, ob während religiöser Zeremonien, in Flüchtlingslagern oder in naturwissenschaftlichen Labors, ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem konzeptionellen Grundbestand ethnologischen Arbeitens geworden”. Genauer gehe es um “jene Praktiken […], mittels derer die potentiell unbegrenzten Dynamiken sozialer Aushandlungen durch Akte der Schließung zu einem Ende gebracht werden”. Was ist damit gemeint?
So wie wir das Tagungsthema verstanden haben und wie es durch die Tagungsteilnehmer*innen bearbeitet wurde, ging es zum einen darum, den sozialwissenschaftlichen Begriff der Aus- und Verhandlung und seine Implikationen nochmals kritischer und empirienah zu beleuchten. Also zu fragen, was meinen und erforschen wir genau, wenn wir sagen, dass sich (soziale) Wirklichkeiten erst in und durch Interaktionen konstituieren und Phänomene und Bedeutungen eben nicht gegeben sind, sondern erst durch kontextspezifische Übereinkünfte, Verpflichtungen, Zielsetzungen und Konstruktionen entstehen und daher auch im Fluss sind.
Zum anderen – und darauf bezieht sich das „Ende der Aushandlung“ – ging es darum, zu fragen, wie wir auch (globale) soziale, politische und kulturelle Prozesse fassen können, die dieser Offenheit und Fluidität entstehender Lebenswelten Grenzen setzen bzw. uns mit Positionen auseinandersetzen können, die eben nicht davon ausgehen, dass soziale Realitäten immer nur vorläufige Ergebnisse von Aushandlung sind, sondern beispielsweise „natürlich“ gegeben, autoritative Setzungen oder moralische Überzeugungen.
Eine religiöse Tradition ist aus Aushandlungsperspektive beispielsweise immer Resultat von Interaktionen und vielfältigen Bezugnahmen; gleichzeitig werden durch orthodoxe Bewegungen oder Identitätspolitiken oder auch in jedem Zensus durch die Unterscheidung unterschiedlicher „Religionen“ religiöse Einheiten und Grenzen festgeschrieben und tendenziell als statisch und unverhandelbar vermittelt. Wie fasst man diese Gleichzeitigkeit der Gegensätze (wie der Indologe/Soziologe Martin Fuchs das nennt) konzeptuell und empirisch? Hilft da der Aushandlungsbegriff noch weiter? Verleugnet er nicht zu sehr die machtasymmetrischen Prozesse, indem er Ideen von Kreativität, Teilhabe, Gegenseitigkeit oder die Vertragslogik eher hervorhebt als die machtvollen Prozesse der Bestimmung dessen, was für wen überhaupt als verhandelbar gilt und was nicht?
Ein Workshop, den Sie mit Magnus Echtler organisiert haben, drehte sich um die Produktion religiöser Autorität: “Wieder andere legitimieren religiöse Autorität über Verweise auf menschliche Errungenschaften wie Toleranz, Vernunft und Konsensfähigkeit und versuchen durch den Ausschluss der scheinbar Intoleranten und Unvernünftigen, Diskussionen um Autorität und Wahrheit zu beenden.” Ich finde es dabei immer wieder spannend, wie weitreichend die Einflüsse religiöser Autorität reichen. So etwa als Beispiel in den kritischen Repliken auf die Tendenz, auch in der Erstellung unserer Religionsstatistik, die jüngst von Fachkollegen — ich hoffe scherzhaft — als “postmoderne Statistik” bezeichnet wurde, “religiöse Vielfalt” entsprechend weit zu fassen. Es geht im Detail um einerseits Neue religiöse Bewegungen, die manche eher Neue spirituelle Bewegungen nennen, andererseits um die Integration derjenigen, die sich nicht-religiösen Weltanschauungen zuordnen. Dabei ging es allerdings niemals um ein “Ende der Kritik” (in Anlehnung an den Tagungstitel), sondern es hat damit zu tun, bestimmte Terminologien als religiös gefärbt zurückzuweisen, und damit auch bestimmte Formen von essenzialistischer Religionskritik. Wie das Wort “Sekte”. Nun ging es auch in Ihrem Workshop um eine “neue[.] begriffliche[.] Fassung von ‘religiöser Diversität’ ”. Was meinen Sie damit?
In unserem Workshop ging es in Vorträgen von Franziska Fay, Nadine Sieveking und Magnus Echtler um empirische Beispiele zum Thema „Herstellung religiöser Autorität“. Diese Herstellung beruht ja in großen Teilen darauf, dass Aushandlungen um die Fragen stattfinden: wer / was hat Autorität, wer / was ist aufgrund wovon legitimiert eine bestimmte Position einzunehmen und wie wird die notwendige soziale Anerkennung von Autorität erreicht? In diesem Sinne ist Autorität immer Produkt sozialer Interaktion und damit immer relational, prekär, vorläufig. Gleichzeitig müssen solche Aushandlungsprozesse scheinbar auch ein (vorläufiges) Ende finden, wenn religiöse Autorität als solche und damit als „nicht (mehr) verhandelbar“ anerkannt werden soll. Wenn also bspw. ein Nachfolger für eine Führungsposition gefunden wurde, wenn eine neue Form der Vermittlung religiösen Wissens als legitim gilt oder eine spezifische Position als orthodoxe festgestellt wird. Dann fragt sich, wer hat es wie zustande gebracht, dass die Aushandlung als beendet erscheint und sozusagen Grenzen geschlossen wurden; Grenzen zu anderen Formen der Legitimierung von Autorität, Grenzen zu anderen Wissensformen oder zu anderen Positionen, die nicht als orthodox gelten. Konkret diskutierten wir beispielsweise, wie zur Koranlektüre befähigende Arabischkurse, unterrichtet in säkularen Institutionen und durch eine Prüfung abgeschlossen, mithin also bürokratisch zertifiziertes Wissen, die Kursteilnehmer*innen (aus der urbanen Mittelschicht Senegals) ermächtigen, religiöse Autorität zu begründen bzw. in Frage zu stellen. Oder, wie lokale Akteure in Sansibar die nicht verhandelbaren und gegensätzlichen Standpunkte globaler Kinderrechtsdiskurse und islamischer Moralvorstellungen bezüglich der körperlichen Disziplinierung von Kindern verhandeln, indem sie alternative Koraninterpretationen mobilisieren und Menschenrechte in religiöse Terminologie übersetzen. Oder den Fall, dass der neue Messias einer südafrikanischen Kirche nicht derjenige wurde, der vom Vorgänger ernannt und per Gerichtsurteil bestätigt wurde, sondern sein Konkurrent, weil ihn ein Häuptling qua seiner traditionalen Autorität dazu erklärt hat.
Diese Aushandlungsprozesse sind also immer Bestandteil pluraler Kontexte während das (vorläufige) Ende der Aushandlung tendenziell Pluralität reduziert oder eine spezifische Form von Pluralität festschreibt, so wie es eben auch jede Kategorie einer Statistik (vorläufig) tut. Jedes Ende der Aushandlung kann aber natürlich wiederum Anlass bieten, eine neue Aushandlung zu beginnen und eben Kategorien infrage zu stellen. Unser Gedanke ist daher, Diversität in der Forschung als Prozesse der Differenzierung zu verstehen und (in Anlehnung an das Bayreuther Exzellenzcluster Africa Multiple) unsere Forschungsgegenstände wie auch unsere Kategorien als Ergebnis relationaler Prozesse. Dabei geht es darum, religiöse Vielfalt nicht nur als vielfältige Formen der gegebenen Einheit Religion oder als Teile eines Ganzen zu verstehen, sondern religiöse Traditionen als in sich multiple Produkte von Prozessen des Inbeziehungsetzens oder Abgrenzens. Wo und wie wird die Grenze von religiös zu nicht-religiös gezogen oder wie entsteht eine Form der Autoritätsbegründung in Relation zu anderen Formen, zu den Medien und Materialitäten, die genutzt werden, zu diversen agencies und zu unterschiedlichen Konzepten von Autorität?
In einem Workshop von Katja Rieck geht es um “moments of non-negotiability in ‘doing good’ or ‘doing right’ ”. Einerseits deutet ja bereits “Jenseits von Gut und Böse” von Friedrich Nietzsche an, dass es auch um religionskritische Fragestellungen geht. Andererseits — Sie werden schnell erahnen, warum ich das kenne — gibt es da ein bestimmtes religiöses Motiv: “Wehe denen, die die Schuld herbeiziehen mit Stricken des Nichts, und die Sünde wie mit Wagenseilen! Die da sagen: Es eile, es komme rasch sein Werk, damit wir es sehen! Und der Ratschluss des Heiligen Israels nahe heran und komme, damit wir ihn erkennen! Wehe denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse; die Finsternis zu Licht machen und Licht zu Finsternis; die Bitteres zu Süßem machen und Süßes zu Bitterem!” (Jesaja 5,18–20). Sicherlich drückt dieses Bibelzitat die Nicht-Aushandelbarkeit von ‘Gutes tun’ aus. Und dennoch würde ich das Zitat nicht auf eine z.B. “reification of power relations or structures” reduzieren, wie vielleicht den performativen Akt der Zehn Gebote selbst. Nun verspricht auch der Workshop in Rekurs auf David Graeber: “Recently anthropologists have turned to the study of ‘the good’ precisely to correct what is perceived as the lopsided perspective on the negotiability of social life that resulted from the poststructuralist turn”. Worum geht es da?
Hier ging es unter anderem um die Erforschung sozialer (auch religiöser) Aktivisten und ihrer gesellschaftlichen Projekte zum Beispiel in Pakistan oder auch um para-staatliche gewaltvolle Interventionen „für das Gemeinwohl“ wie sie im war on drugs auf den Philippinen erfahren werden. Thema waren also solche Akteure, die eine (scheinbar) eindeutige Position dazu einnehmen, was sie für gut und richtig halten und gegen was sie ankämpfen. Ethische Positionen, spezifische Werte und Moral werden ja oft als unverhandelbar verstanden bzw. werden es in dem Moment, in dem man eine bestimmte Position vertritt und andere Positionen ablehnt oder ausschließt. In der Sprache politischer Verhandlungsforscher sind das dann „sacred values“. Der Workshop und Graebers Einwurf zielte, denken wir, auf die Frage ab, ob eine Forschungsperspektive auf Aushandlung nicht den Blick auf gerade solche Überzeugungen und Vorstellungen vom „Guten“ verstellt, indem sie vielmehr Fluidität, Interessen und Strategien in den Mittelpunkt stellt. Das verweist aber auch auf die Frage, inwiefern das Postulieren von „Unverhandelbarkeit“ eben auch ein „totalitärer“ Akt des Ausschlusses anderer Positionen ist (siehe die kontroverse Debatte um die Universalität der Menschenrechte). Zugleich wirft das auch eine Frage an die Wissenschaftler*innen selbst und ihre politische Positionierung auf: Wie können wir noch (politisch) Stellung beziehen, Werte und Positionen vertreten, wenn wir immer nur die Fluidität von Positionen, Diskursen und Werten betonen? Bzw. wen und was schließen wir aus, wenn wir Stellung – natürlich für „das Gute“ – beziehen?
Hier geht es also wieder um die zwei Ebenen, die enger miteinander verwoben scheinen, als gedacht: zum einen der theoretische-konzeptuell inspirierte Forschungsfokus, der Kultur, Gesellschaft, Religion eben nicht als statische gegebene „Einheiten“ betrachtet, sondern Prozesse ihrer Herstellung oder Emergenz untersucht. Während gleichzeitig – zum anderen – Prozesse zu beobachten sind, die eben gerade von der Unverhandelbarkeit bestimmter Positionen, Werte oder Verfahren ausgehen und damit eventuell auch eher Inhalte als Prozesse und Substanz statt Relationalität betonen.
In einem jüngst publizierten Überblick “Methoden der Religionswissenschaft” wurde die entscheidende Rolle der Ethnologie für diverse historische Öffnungsprozesse im Fach betont. In einem Vorgespräch sagten Sie, “dass in der Religionswissenschaft die soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Interview-Zugänge den (sehr zeitaufwändigen) ethnographischen Methoden vorgezogen werden”. Woran machen Sie das fest und was entgeht der Religionswissenschaft eventuell damit?
Und mit den Teilnehmer*innen des Roundtable, Heike Drotbohm und Martin Sökefeld, wurde “diskutier[t], welche Positionen die Ethnologie gegenüber diesen Grenzziehungen und Differenzierungsprozessen einnehmen kann. Wie gehen wir mit Grenzen um, die als scheinbar unverhandelbar dargestellt werden, wie verhalten wir uns gegenüber Kriterien der Zugehörigkeit, die gesetzt oder als selbstverständlich artikuliert werden, wie sehen wir die Grenzziehungen von Akteur*innen, deren politische Positionen wir teilen?”. Und in der Soziologie gibt es einen Methodenstreit, um einen “Quexit” (ganz aktuell verwechselbar mit unter demselben Stichwort firmierenden Entwicklungen um Queensland in Australien). Wie ist das innerhalb der Ethnologie? Wie sehr betrifft das Thema Ihrer Tagung auch die Wissenschaft selbst?
So wie sich die Kultur- und Sozialanthropologie / Ethnologie auf der Tagung präsentiert hat, ist die qualitative ethnographische Forschungsrichtung eindeutig die dominante. Auf der Tagung vortragende Doktorand*innen und Post*Doktorandinnen benannten typischerweise die exakte Länge ihrer Feldforschungen, auch um deutlich zu machen, dass ihr ethnographischer Zugang sich von Kurzeitaufenthalten und Interviewforschungen unterscheidet: Auch wenn sich dies stark verändert, ist die Ethnologie mehrheitlich noch eher in außereuropäischen Kontexten forschend tätig, was nochmals andere (sprachliche, soziale, kulturelle, ethische, politische) Herausforderungen mit sich bringen kann, als Forschungen „im eigenen Land“ oder kürzere Forschungsaufenthalte. Eventuell sind daher post- und dekoloniale Debatten gerade in diesem Fach sehr präsent und vielleicht werden daher auch Debatten zu (Forschungs-)Ethik, sowie zu epistemologischen und ontologischen Fragen in der Ethnologie energischer geführt als wir dies in der Religionswissenschaft erleben. Sie verweisen auf die politischen Implikationen von Forschungen und die Positionierungen der Forschenden, die nicht nur im Rahmen der genannten Debatten sehr aktiv diskutiert werden, sondern auch in denen um die „öffentliche Rolle“ der Kultur-und Sozialanthropologie, sei es in Fragen von Migration, Diversity, Restitution bzw. allgemein des Kontakts zur außerakademischen Öffentlichkeit (vgl. die neugegründete AG Public Anthropology)
Diese Debatten gibt es natürlich auch in der Religionswissenschaft. Unser Eindruck ist aber, dass sie in der Ethnologie / Sozial- und Kulturanthropologie eher zum Selbstverständnis des Fachs gehören und daher auf breiterer Basis geführt werden.
Gleichzeitig scheint es in der Religionswissenschaft aber ein sehr viel weiteres Methodenspektrum zu geben; Ethnographische Langzeitforschung ist hier eben nur einer von vielen Zugängen, was wir wiederum sehr begrüßen. Dennoch scheint uns beiden für die Gegenwartsforschung der ethnographische Zugang (die Feldforschung) der fruchtbarste. Der ist zwar sehr zeitaufwändig, aber nur dieser hohe Aufwand ermöglicht eben die Teilnahme am Alltäglichen, das Eintauchen in eine andere Lebenswelt. Teilnehmende Beobachtung als Methode ist als Teilnahme materiell, körperlich und notwendigerweise intersubjektiv, spricht als Beobachtung alle Sinne an, und ist ihrem Wesen nach offen für die tägliche Unterbrechung der Forschungsfrage durch das Unerwartete. Sie ermöglicht Einblicke in die Relation von Diskurs und Praxis, erfordert die tägliche Aushandlung persönlicher Beziehungen, und verweist die Forscher*in wiederholt auf die Unverhandelbarkeit ihrer eigenen Positionalität.
Insgesamt ist die Kultur-und Sozialanthropologie genauso wie die Religionswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin zunehmend (von den Forschungspartner*innen, Kolleg*innen, den politischen Bedingungen) herausgefordert anzuerkennen, dass es die distanzierte, neutrale und völlig unpolitische wissenschaftliche Position nicht gibt und die Produktion wissenschaftlichen Wissens zum einen ein relationaler und zum anderen auch ein politischer Prozess ist.
“The end of negotiations in the Middle East? Debating the power of everyday life and scopes for action after post-Islamism”, heißt ein Workshop von Maren Jordan und Claudia Liebelt. Auch ethnologische Islamforschung hatten wir im Vorgespräch thematisiert. Die Leiterinnen des Workshops spitzen ihre Frage zu: “One key question that has been controversially debated within the Anthropology of Islam in recent years is the relation between mundane practices of everyday life and the normative formation of (pious) subjectivities, as well as their political implication”. Nun ist selbst der Ausdruck “Post-Islamismus” für die öffentliche Debatte erläuterungsbedürftig. Was ist damit gemeint? Wie könnte die kontroverse Debatte innerhalb der Anthropologie des Islam den Horizont — sowohl der deutschsprachigen Religionswissenschaft als auch der Mediendiskurse — bereichern?
Wir arbeiten beide zu christlichen Traditionen und arbeiten selbst nicht mit dem Begriff „Post-Islamismus“. Soweit wir verstanden haben bezog sich Post-Islamismus im Workshop auf das Konzept des Islamwissenschaftlers Asef Bayat und die dadurch angeregte Diskussion, inwieweit sich „islamistische Bewegungen“ verändern / verändert haben und dabei neue Formen von Alltagspolitik, sozialen Bewegungen oder neue Räume sozialen oder politischen Engagements eröffnet haben. Der Workshop thematisierte aber weniger die Debatten um den Begriff, als gelebten Alltag. Vor dem Hintergrund, dass das Demokratieversprechen „post-islamistischer“ Bewegungen seit 2011 vielerorts nicht mehr aktuell ist, standen im Workshop zunächst eher Alltagserfahrungen und ‑praktiken zum Beispiel in Ägypten, Iran oder der Türkei im Mittelpunkt und erst dann die Frage, wie diese in Zusammenhang stehen mit und einwirken auf religiös-normative Vorgaben und sozio-politische Ordnungen. Claudia Liebelt untersucht beispielsweise alltägliche geschlechtsspezifische Handlungsräume in der heutigen Türkei, indem sie sich in Schönheitssalons den verändernden Formen von Femininität und Frömmigkeit annäherte. Sie zeigt damit nicht nur sich wandelnde Alltagsvorstellungen von Ästhetik und (frommer) Weiblichkeit, sondern auch die sich verändernden Vorstellungen von angemessenem weiblichen Auftreten in der türkischen Öffentlichkeit. Samuli Schielke und Aymon Kreil befassten sich mit der Sehnsucht nach Normalisierung und Stabilität in Ägypten nach 2014 und den Versuchen junger Menschen, einen eigenen und doch bisweilen „konventionellen“ Lebensweg zu finden.
Was hierbei wessen Horizont erweitern könnte, wissen wir nicht. Die Tendenz der Anthropology of Islam weniger auf „Islam“ bzw. auf „Religion“ zu fokussieren und sehr viel stärker Lebens- oder Alltagswelten in den Blick zu nehmen, scheint uns aber ein sehr fruchtbarer Zugang für die gesamte empirische Religionsforschung. Denn Religion ist für die meisten Menschen eben nur eine Facette des Lebens von sehr vielen und hier liegt der Schwerpunkt eher auf dem gelebten Leben und den Träumen, Bedürfnissen und Sehnsüchten der Menschen mit denen man forscht.
Danke für das Interview!
Das Interview führte Kris Wagenseil.