REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Im Sommer 2014 begann ein düsteres Kapitel in der Geschichte der Religionsfreiheit. Die Terrormiliz des sogenannten “Islamischen Staates” richtete im Irak Massaker an, neben verfolgten Christen und Angehörigen anderer religiöser Minderheiten war es insbesondere die Religion der Yeziden, welche systematisch verfolgt wurde: Viele ihrer männlichen Angehörigen wurden getötet, Frauen wurden versklavt und sexuell ausgebeutet. Inzwischen haben auch diverse Medien über den erfolgreichen Abschluss des Sonderkontingentes des Landes Baden-Württemberg für 1.000 besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak berichtet. Der Leiter dieses humanitären Projektes, Dr. Michael Blume, ist aktiver Religionswissenschaftler. Deshalb fragte REMID nach.
Das Projekt “Sonderkontingent” hat nach bestimmten Kriterien Frauen und Kinder, die in Gefangenschaft des sogenannten “Islamischen Staates” geraten waren, ausgewählt für eine neue Zukunft in Deutschland. Welche Kriterien waren das?
Das Sonderkontingent richtete sich an Frauen und Kinder, die traumatisierende Gewalt erlitten haben und deren Familienstrukturen schwer beeinträchtigt worden waren. So hatte der IS gezielt Männer ermordet und sexuelle Gewalt angewendet, um die Frauen und Kinder auch sozial zu isolieren. Im Laufe der Monate konnten viele entkommen oder freigekauft werden. Doch im Irak gibt es nur sehr wenige Therapeuten und die meisten von ihnen sind muslimische Männer, an die sich nicht alle Yezidinnen oder Christinnen mit diesen Themen wenden würden. Das Land Baden-Württemberg hatte mit dem Bund und der kurdischen Regionalregierung daher vereinbart, bis zu eintausend Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, die dringend Hilfe brauchen und denen ein Ortswechsel in eine sichere Umgebung helfen könnte. Und das haben wir getan. Weil Niedersachsen und Schleswig-Holstein von uns auch noch Menschen aufnahmen, konnten wir schließlich sogar 1.100 Personen helfen.
Was hat es für Dich als Religionswissenschaftler bedeutet, ein solches Projekt zu leiten?
Als Referatsleiter für „Kirchen und Religion, Integration und Werte“ stand ich ja schon vor dem Sonderkontingent auch mit Yezidinnen und Yeziden im Kontakt – das hat natürlich viel geholfen. Auch galt es die Vielfalt der Religionen und Konfessionen in der Region – Sunniten und Schiiten, Yeziden, Aleviten, verschiedene Kirchen, Zoroastrier, Shabak, Sufi-Orden u.v.m. – zu verstehen. Und auch unser deutsches Projektteam war in sich vielfältig und bestand aus Christen, Musliminnen, Yezidinnen und Nichtreligiösen unterschiedlicher Herkunft. Das war auch wichtig, denn so konnten wir zeigen, dass wir zu keiner geschlossenen Gruppe gehören, sondern für unser gemeinsames Land und für Freiheit, Vielfalt und Menschenrechte einstehen.
Ganz überraschend hatte übrigens geholfen, dass ich einmal ein Buch über „Engelkunde“ geschrieben hatte, in dem es auch ein Kapitel über das Yezidentum gibt. Im Höchsten Rat der Yeziden in Lalish hatte sich das herumgesprochen und so wurde ich dem Rat als „Gelehrter, der die Engel kennt“ vorgestellt. Vielleicht auch deshalb erlaubten uns die Tempelwächter später sogar, die heilige Zamzam-Quelle tief im Berg aufzusuchen, die bis dahin nur Yeziden zugänglich gewesen war. Das war schon ein besonderes Zeichen des Vertrauens und für einen Religionswissenschaftler natürlich ein bewegender Moment…
Ein großer Teil der Menschen, welche das Projekt versorgte, waren Yeziden. Was haben sie berichtet? Welche Zukunft sehen sie für das Yezidentum im Irak mit seinen lokalen Heiligtümern?
Die Yeziden verstehen sich als Monotheisten und bekennen sich zum gleichen Gott wie Juden, Christen, Muslime, Sihks und Bahai. Doch nach ihrem Glauben hat sich der Oberste Engel mit Gott versöhnt, daher kann es auch keinen dauerhaften Widerpart zur göttlichen Allmacht geben. Daraus machten islamische, teilweise aber auch christliche Hassprediger den sachlich falschen Vorwurf, die Yeziden wären „Teufelsanbeter“.
Nach yezidischer Überlieferung gab es bereits über 70 Massaker an ihrem Volk, das heute noch bis zu einer Million Menschen umfasst. Viele auch nichtyezidische Kurden meinen, dass früher alle Kurden Yeziden waren, die meisten dann aber zum Islam bekehrt wurden. Durch strenge Abschottung und Kinderreichtum konnten sich die Yeziden dennoch lange halten, doch durch die Verfolgungen schrumpft ihre Zahl immer weiter. Das Yezidentum in der Türkei ist bereits praktisch erloschen, aber in Armenien, Deutschland, Schweden und den USA haben sich yezidische Gemeinden gebildet. Die meisten Yeziden hoffen, dass es ihnen gelingt, ihre Siedlungen und Heiligtümer in Kurdistan-Irak zu erhalten und als lebendige Weltreligion zu überleben. Vielen ist bewusst, dass dazu Reformen etwa des Kastensystems, der Eheregeln und der Aufnahmeverbote notwendig sein werden. Es ist ziemlich verblüffend – und leider noch wenig erforscht – die Parallelen in den Strukturen, Entwicklungen und Reformdebatten von Aleviten und Yeziden zu beobachten.
Zu den versorgten Frauen und Kindern gehörten aber auch Angehörige anderer religiöser Minderheiten?
Ja, absolut – ich habe mich immer wieder darüber geärgert, wenn vom „Jesidinnen-Programm“ gesprochen oder geschrieben wurde. Das Sonderkontingent richtete sich an besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Und leider mussten wir feststellen, dass auch die Gewalt gegen schiitische und christliche Familien durch „Daesh“, wie Araber, Türken und Kurden den IS nennen, immer weiter eskalierte. Diese Gruppierung geht systematisch und grausam gegen jede Art von religiöser Vielfalt vor und schreckt auch vor Entführungen und Folter zur Erpressung von Lösegeld nicht zurück.
Im Fernsehbericht von “Forum am Freitag” klingen bittere Töne an bezüglich des Verhältnisses zum Islam, insbesondere zum sunnitischen. Kann man etwas über das Verhältnis zwischen Sunniten und Yeziden vor Ort sagen?
Wie gesagt reihen die meisten Yeziden das aktuelle Massaker, das ich persönlich ganz klar als Genozid bezeichnen würde, in ihre lange Verfolgungsgeschichte vor allem durch Muslime ein. Bei der Eroberung der Shingal-Region fühlten sich viele zudem von arabischen und auch kurdischen Nachbarn verraten, auch die mehrheitlich sunnitischen Peshmerga zogen sich ja zunächst zurück, verteidigten aber die Ölfelder bei Kirkuk. Die meisten Yeziden haben noch immer sehr viele auch muslimische Freunde und erkennen auch an, dass die meisten Gegner und Opfer des IS ebenfalls Muslime sind. Doch bei einigen, insbesondere bei Jüngeren, wächst die Bitterkeit, teilweise gibt es auch hierbei Radikalisierungen. Deswegen war die Unterstützung durch Nichtyeziden auch psychologisch so wichtig. Der Baba Sheikh, das religiöse Oberhaupt der Yesiden, formulierte es in einer kurzen Predigt einmal so:
„Schon 73mal wurden wir verfolgt. Doch zum ersten Mal kamen andere Völker, um uns zu helfen. Vielleicht wird es also das letzte Mal sein, dass wir so leiden müssen.“
Leider noch sehr wenig beachtet wird aber auch, dass die Untaten des IS und Saudi-Arabiens, aber auch des Assad-Regimes und des Iran sowohl sunnitische wie schiitische Muslime in Glaubenskrisen stürzen. Viele schämen sich für das, was im Namen ihres jeweiligen Glaubens geschieht, aber darüber wird öffentlich noch kaum geredet. Die meisten ziehen sich still zurück, es gibt aber auch einige Taufen und sogar eine Wiederbelebung des kurdischen Zoroastrismus. Und weil man Islam, Judentum, Yezidentum, Hinduismus usw. eben von Geburt her angehört und es keine Kirchenaustritte nach christlichem Verständnis gibt, wird kaum wahrgenommen, dass auch in diesen Religionen nicht nur Radikalisierungs‑, sondern auch Säkularisierungsprozesse stattfinden. Wer hier von der „Islamisierung des Abendlandes“ redet, hat keine Ahnung von dem, was derzeit wirklich geschieht. Wenn überhaupt, so eignen sich Vergleiche mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa, der ja auch die geistige Welt tiefgreifend veränderte.
Du hast den Irak gesehen, wie er aktuell vom Krieg gezeichnet ist. Kann man das irgendwie in Worte fassen?
Es ist eigentlich eine wundervolle und vielfältige Landschaft und die Menschen sind in all ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt faszinierend. Doch der Krieg hat furchtbare Wunden geschlagen. Für mich wird der Irak auch immer das Bild eines 13jährigen Mädchens sein, die mir auf dem Smartphone Bilder von der Hinrichtung ihres Vaters und Bruders zeigte und sie nicht löschen wollte, waren es doch die letzten Erinnerungen… Immer, wenn wir gedacht hatten, schon das Schlimmste gehört und gesehen zu haben, wurden wir mit noch mehr Grausamkeit konfrontiert.
Da viele der von uns aufgenommenen Frauen und Kinder aus dem Shingal kamen, wurden wir zuletzt auch in die vom IS eroberte, dann von US-Flugzeugen bombardierte und vor Kurzem zurückeroberte Stadt eingeladen. Die Zerstörungen waren unbeschreiblich, außer den Soldaten und zwei Katzen sahen wir nichts Lebendiges mehr. Der Bürgermeister empfing uns in einem Zelt, da kein Gebäude mehr stand, das als Rathaus hätte dienen können. Und an den zerstörten Wänden prangten noch die Markierungen des IS, der direkt nach der Einnahme die Konfessionen der Hausbewohner angesprüht und die nichtsunnitischen Einwohner danach systematisch vernichtet hatte. Wir standen an Massengräbern, die auch mithilfe europäischer Experten dringend gesichert, dokumentiert und geborgen werden müssten. Und wir sahen die bis in die römische Zeit zurückreichende Kirche, die der IS gleich nach der Eroberung der Stadt gesprengt hatte. Doch die Peshmerga – Yeziden und Muslime – hatten aus einfachem Holz wieder ein Kreuz gefertigt und aufgestellt. Und sie fragten uns hoffnungsvoll, ob wohl auch die Christen wieder zurückkehren würden. Da standen sich die beiden Gesellschaftsentwürfe unserer Zeit schon symbolisch gegenüber — Gewalt und Intoleranz gegen Freiheit und Vielfalt.
Wie habt Ihr all das verarbeitet?
Zunächst einmal machten wir uns klar, dass wir für die anderen Menschen da sind, nicht für unsere eigenen Gefühle. Der Zusammenhalt im Team war hervorragend, wir haben einander gestützt und intern durfte auch mal geweint werden. Aber niemand will zu einem Arzt, der ständig vor Mitleid zerfließt. Unser Auftrag war es, Hoffnung zu bringen und das taten wir nach Kräften.
Und wir hatten nach jedem Einsatz eine psychologische Supervision und lernten so auch, was jeder und jedem von uns gut tut. Persönlich habe ich dadurch auch gelernt, warum ich so viel und gerne religionswissenschaftlich forsche, schreibe und lehre. Offensichtlich ist das wissenschaftliche Abstandnehmen, Analysieren und Beschreiben mein persönlicher Weg der Stressverarbeitung, wie bei anderen zum Beispiel das Wandern, Angeln oder Musizieren. Nachdem ich aber dieses Jahr natürlich keinen Lehrauftrag annehmen und nur ein Buch schreiben konnte, hoffe ich, im kommenden Jahr auch einfach wieder braver Beamter, Familienvater und Hochschuldozent sein zu dürfen. Und blicke zugleich glücklich und stolz vor allem auf die aufgenommenen Kinder, die mit unglaublichem Lebens- und Wissensdurst Deutsch lernen und von denen es bereits die ersten zwei aufs Gymnasium geschafft haben. Und diese Kinder stärken natürlich wiederum auch ihre Mütter und geben ihnen das Lächeln zurück. Wir wussten, wir können nicht allen helfen – doch jedes Leben war den ganzen Einsatz wert!
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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