REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Janosch Freuding, 1987 in Füssen geboren, studierte Germanistik, Katholische Theologie und Islamwissenschaften in Augsburg und Bamberg. Nach einem Austauschjahr an der Universität Izmir initiierte er das länderübergreifende deutsch-türkische Jugendfilmprojekt bu bizimki / es sind wir. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache promoviert Janosch Freuding heute im Fach Religionspädagogik an der Universität Bamberg über Othering und interreligiöses Lernen. Seit 2014 schreibt er regelmäßig für das MiGAZIN. Im Gespräch mit dem Philosophen und Erziehungswissenschaftler Alexander Graeff berichtet Janosch Freuding über Formen des Othering in evangelischen und katholischen Religionslehrwerken.
Im Rahmen deiner Promotion erarbeitest du theoretische Grundlagen für interreligiöses Lernen und für einen Artikel im MiGAZIN (2014) hast du einige in Gebrauch befindliche Lehrwerke für den katholischen und evangelischen Religionsunterricht in Bezug auf Darstellungen des Islams und anderer nicht-christlicher Religionen untersucht. Was zeigt sich diesbezüglich für ein Bild?
Im Rahmen meiner universitären Abschlussarbeit habe ich mehrere, vorwiegend katholische Lehrwerke aus Bayern untersucht. Viele Lehrwerke1 weisen in den Kapiteln über den Islam folgende Struktur auf:
1. Unter dem Motto „Begegnungen mit Muslimen in unserer Gesellschaft“ werden Erscheinungsformen muslimischen Lebens in der „Nachbarschaft“ beleuchtet. Dabei ist fraglich, was mit dem „uns“ in „unserer Gesellschaft“ gemeint ist und bis wohin diese Gesellschaft reicht – ist es die christliche Perspektive? Ein Lehrwerk titelt: „Muslime und wir“. Implizit wird dieses uns/wir so in einen gesellschaftlichen Gegensatz zum muslimischen Leben gebracht. Auch das Motto „Begegnung“ denkt implizit natürlich immer schon eine Differenz mit, die erst überwunden werden muss. Ein anderes Lehrwerk fragt noch zugespitzter: „Muslime – Nachbarn oder Fremde?“.
2. Nach diesen ersten Verortungen erfolgt in vielen Lehrwerken eine „Studienreise Islam“, in der Fachwissen über den Islam vermittelt wird: die Biographie Mohammeds, die fünf Säulen des Islam etc. Diese Studienreise geht weg von der deutschen Gegenwart in den Orient und in die Vergangenheit. Es kommen romantisierende Orientalismen zu Sprache („Reise ins Unbekannte“, „Lasst euch verzaubern von der Schönheit islamischer Länder“, „1001 Nacht“), es werden aber auch Aussagen z. B. zum Frauenbild des Islam getroffen.
3. Nach dieser Bildungsreise kommt ein abrupter Sprung in die Gegenwart: es werden kritische Diskussionsfelder angesprochen, wie z. B. die Kopftuch-Debatte oder der islamistische Terrorismus.
4. Abschließend steht oft ein Friedensgebet, zumeist jedoch aus christlicher Perspektive (in katholischen Lehrwerken zum Beispiel ein Gebet von Papst Benedikt).
Insgesamt verstetigt sich so ein Bild der Fremdheit des Islam, der trotz seiner unmittelbaren Nachbarschaft mit einer orientalischen Kultur assoziiert bleibt, auch liegen aufgeführte „[g]roße Leistungen von Muslimen“ sämtlich in der Vergangenheit (die jüngste hier im 18. Jahrhundert). Das heutige Zusammenleben wird dagegen häufig als problematisch empfunden („Terror“, „Kopftuch“). Zwar lassen sich nicht alle Religionslehrwerke auf diese Weise über einen Kamm scheren, aber für sehr viele Lehrwerke lässt sich behaupten: ihre Darstellungen des Islam betonen dessen „Fremdheit“, machen ihn systematisch „fremder“. Fachsprachlich wird dieser Prozess „Othering“, also Fremdmachen genannt.
Die untersuchten Lehrwerke sind inzwischen schon etwas älter, Jahrgang 2005 für Gymnasien, oder noch früher für andere Schularten. Ich hatte deshalb die Hoffnung, dass die neuen Lehrwerke, die im Zuge des neuen bayerischen Lehrplans allmählich veröffentlicht werden, in dieser Hinsicht besser sein werden. Leider finden sich in den Lehrplanvorgaben zum Thema Islam in der 7. Klasse dieselben Schlagworte, die auch die Struktur der bisherigen Lehrwerke bestimmten: „Begegnung mit Muslimen“, „Erscheinungsformen muslimischen Glaubenslebens im eigenen Umfeld“, „fünf Säulen des Islam“, „Konfliktpotentiale und Beispiele einer friedlichen Koexistenz“, „Ansätze von Dialog und Verständigung“. Ich sage es mal so: Es wird auf dieser Grundlage sehr schwer werden, bessere Lehrwerke zu erstellen.
In deinem Artikel schreibst du, dass die Darstellungen des Islams in den von dir untersuchten Schulbüchern „ein einziger Fehler“ seien, aber auch, dass die darin dargestellten Stereotype über den Islam „aus einer eigentlich positiven Intention“ heraus entwickelt worden seien. Ich habe mich gefragt, ob das wirklich so ist. Was macht dich sicher, dass besagte Darstellungen tatsächlich „gut gemeint“ waren?
Dass sie „ein einziger Fehler“ seien, war natürlich sehr polemisch. Der Artikel, muss ich dazu sagen, ist schon vier Jahre alt, ich weiß nicht, ob ich es heute noch einmal so scharf formulieren würde. Die Tendenz ist aber immer noch die gleiche: Viele von den untersuchten Lehrwerken sind oft schon von ihrem Grundaufbau her problematisch. Dennoch nehme ich viele Religionspädagog*innen und ‑didaktiker*innen, die sich für den interreligiösen Austausch engagieren, als Menschen wahr, denen viel am friedlichen Zusammenleben der Religionen liegt. Ich denke eher, dass viele problematische Bilder des Islams in den Lehrwerken auf Stereotype zurückgehen, die in der gesamten deutschen Gesellschaft vorhanden sind, aber mindestens genauso auf die Art und Weise zurückzuführen sind, wie Lehrwerke entstehen. Wie gesagt ist es gar nicht so einfach vor dem Hintergrund der derzeitigen Lehrplanvorgaben in Bayern ein gutes Schulbuchkapitel zu erstellen, das sich beispielsweise mit dem Islam befasst. In wenigen Wochen Lernenden eine ganze Religion vermitteln zu wollen, kann fast nur holzschnittartig enden. Bedenklich ist dies besonders, da viele Lehrkräfte vor allem bei interreligiösen Themenfeldern, in denen sie sich oft nicht sicher fühlen, auf Schulbücher zurückgreifen.
In einem von dir kritisierten Lehrwerk heißt es, dass „Sprachbrücken“ gebaut werden müssten. Darin werden Lernende aufgefordert, für den Umgang mit türkischen resp. muslimischen (!) Jugendlichen zwecks „gute[r] Stimmung“ einen Satz auf Türkisch zu lernen: „Burasini nasil buluyorsunuz?“ – Wie finden Sie es hier?“. Deutlicher könnte doch Othering nicht hervortreten, denn am Wort „hier“ (dem das „dort“ gegenübersteht) wird ja nicht nur eine territoriale Selbstverortung sichtbar, sondern auch eine gönnerhafte und im Kern abgrenzende Hin‑, und damit eigentlich eine Abwendung zum angeblich Fremden. Provokant gefragt: Ist das ein typisches Verhalten von Mehrheitsreligionen, etwa des Christentums, das ein eminentes Innen-Außen-Schema deutlich werden lässt? (vgl. Friederike Gräff: Ist Gott noch Mitglied der evangelischen Kirche?, Zeit, 2014).
Bloß weil solche Passagen in Religionsbüchern zu finden sind, muss das noch keine innerreligiösen Gründe haben. Wahrscheinlicher ist, dass hier auf paternalistische Muster zurückgegriffen wird, die generell in der Gesellschaft vorhanden sind und mit denen Mehrheits-/Minderheitsverhältnisse verhandelt werden. 2011 gab es eine groß angelegte europäische Schulbuchstudie des Georg-Eckert-Instituts für Schulbuchforschung, die titelte: „Keine Chance auf Zugehörigkeit? Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt“.2 Die oben aufgezeigten Phänomene bleiben also nicht auf Religionsbücher beschränkt, sondern sind genauso in Geschichtsbüchern vieler Länder zu finden.
Natürlich lassen sich darüber hinaus auch Belege dafür finden, dass solche Denkstrukturen auch aus innerreligiösen Strukturen herrühren. Um aber wirklich beantworten zu können, ob das ein „typisches Verhalten von Mehrheitsreligionen“ ist, bin ich ehrlich gesagt zu wenig religionswissenschaftlich versiert. Ich kann nur sagen: Einer der zentralen Gedanken des Neuen Testaments ist, dass die Gemeinschaft derjenigen, die in Christus getauft sind und ihm nachfolgen, laut Paulus gemeinsam den „Leib Christi“ darstellt, mit den verschiedenen Gläubigen als dessen „Glieder“. Dieses Bild bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes die „Verkörperung“ eines Innen-Außen-Schemas. Denn es gibt eben nicht nur diejenigen, die in all der Verschiedenheit ihrer „Geistesgaben“ zu dem einen Leib gehören und Anteil am Reich Gottes haben, sondern auch explizit diejenigen, die von dieser Heilsgemeinschaft ausgeschlossen sind. Namentlich sind das neben Dieben und Räubern auch die „malakoi“ („Weichlinge“) und „arsenokoitai“ („Mit-Männern-Lieger“). Im selben Korintherbrief, der ein integrales Symbol für die Einheit der christlichen Gemeinschaft in ihrer Vielfalt entwirft, findet sich auch eine der drei zentralen Passagen des Neuen Testaments, wo pejorativ über Homosexualität gesprochen wird.
Insofern, ja, diese Innen-Außen-Schemata gibt es, und diese gleichzeitige Ein- und Ausgrenzung geht theologisch natürlich schon ans Eingemachte. In der Geschichte des Christentums finden sich bekanntermaßen sehr viele Beispiele dafür, dass solche theologisch gesprochenen Ausgrenzungen schlimme Folgen hatten. Was sich für mich an diesem Beispiel immer wieder zeigt, ist, dass religiös-mythische Sprachformen zuweilen eine problematische Nähe zu der mythisch-symbolischen Sprache des Othering aufweisen. Religiöse Sprache muss also besonders aufpassen, dass ihre symbolischen Sprachbilder nicht zu machtvollen Symbolen der Ausgrenzung werden.
Wenn also kollektiv erzeugte Identitätsmarker derart auf die individuelle Identitätsbildung einwirken, verwundert es mich nicht, dass Innen-Außen-Schemata oder Hier-Dort-Konstruktionen auch zentral sind für Religionen. Reicht das aus? Oder könnte man sagen, dass gesellschaftliche Strukturen in dem Sinne immer auch religiöses Denken transportieren?
Diskurse und Medien interreligiöser Bildung werden in vielerlei Hinsicht noch durch weitere problematische Strukturen geordnet und reproduzieren dann ihrerseits problematische Ordnungsstrukturen. Das fängt mit dem simplen Umstand an, dass das, was sich heute interreligiöses Lernen oder interreligiöse Bildung nennt, vor 40 Jahren noch „Fremdreligionendidaktik“ und später „Didaktik der Weltreligionen“ hieß – ein gedankliches Erbe, von dessen Strukturen man sich erst einmal frei machen muss. Schon die Aufgabe, Lernenden Inhalte von „Weltreligionen“ näher zu bringen, greift auf das geschichtlich hochproblematische Konstrukt „Weltreligionen“ zurück, dessen Traditionslinien weit zurück reichen. Wenn in der katholischen Religionspädagogik nach wie vor davon gesprochen wird, dass „fernöstliche Religionen“ aufgrund ihrer „Komplexität“3 nur in der Oberstufe behandelt werden können, dann ist das zugrunde liegende Verständnis erstens immer noch ähnlich zu den ersten religionspädagogischen Entwürfen in diese Richtung.4 Zweitens ist es auch nicht weit von dem Verständnis entfernt, das z. B. in Friedrich Schlegels Buch Über die Sprache und Weisheit der Indier im Jahr 1808 zu lesen ist.
Es gibt jedoch noch viel basalere Mechanismen, wie Bilder über Religionen verstetigt werden. In mehreren Schulbuchreihen eines bayerischen Schulbuchverlages findet sich in den jeweiligen Kapiteln über den Islam das gleiche Foto eines „Dönerverkäufers“, und das über 20 Jahre hinweg. Das hat sicher viel mit Bildrechten des Verlags zu tun, aber auch damit, dass es anscheinend weder auf Verlagsseite noch auf Herausgeber*innenseite als problematisch angesehen wurde, das Thema Islam mit solch einem Foto zu illustrieren. Und apropos Strukturen: Wusstest du, dass in Bayern über die Zulassung eines katholischen Lehrwerks nicht nur die staatliche Zulassung und das Urteil der Schulbuchkommission der katholischen Bischofskonferenz entscheidet, sondern dass auch alle sieben bayerischen Bischöfe ihr Einverständnis geben müssen? (vgl. Arndt Zickgraf: Moderne Religionsbücher: Zwischen den Stühlen, Klett-Themendienst Nr. 78 [10/2017]). Alle beteiligten Instanzen entscheiden nach ihren jeweils eigenen Ordnungskategorien. Auch so etwas prägt letztendlich ein Lehrwerk.
In deiner Promotion problematisierst du im Sinne postkolonialer Theorie das Othering nicht nur als Phänomen für Ausgrenzungsstrukturen, sondern versuchst auch, es als Ordnungsprinzip sozialer Systeme plausibel zu machen. Im Diskurs wird der Begriff in der Regel ja kritisch verwendet, ist es dir ein Anliegen, Othering affirmativ zu denken?
Wie du sagst, lassen sich Phänomene des Otherings auch als Begleiterscheinung täglichen Ordnungshandelns erklären. Othering deshalb aber affirmativ zu verstehen, geht zu weit. Seine Strukturen des (bewussten) Fremdmachens, das zur gesellschaftlichen Ausgrenzung vieler Menschen führt, affirmativ zu denken, wäre sogar problematisch. Ich denke, dass gerade in den Bildungswissenschaften ein normativer Anti-Othering-Ansatz leitend sein sollte, der Ausgrenzungsstrukturen, wo es geht, entgegentritt und ihre Folgen abmildert. Womit ich allerdings meine Probleme habe, ist der anklagende Tonfall, der in der postkolonialen Theorie oft vorherrscht. Das ist sicher auch ein Vorwurf, dem man auch meinem eigenen eingangs erwähnten MiGAZIN-Artikel machen kann. Es geht mir jedoch weniger um einzelne provokante, vielleicht missglückte Formulierungen, sondern vielmehr um eine dahinterstehende Grundhaltung. Ich frage mich, welche Auswege es aus der schieren Verzweiflung geben kann, die in Texten postkolonialer Theorie angesichts der allgegenwärtigen Komplizenschaft mit Ausgrenzungsstrukturen oft durchscheint. Wenn man als Person im Großen wie im Kleinen „complicit“ mit einer allgegenwärtigen Konstruktion des jeweiligen gesellschaftlichen Fremden ist, stellt sich am Ende die Frage, wohin diese Erkenntnis führt. Besonders da die Diagnose postkolonialer Theorie ja größtenteils zutrifft und verschiedenste Komplizenschaften tatsächlich bestehen. Wir sind in eine Welt hineingeboren, in der koloniale Machtverhältnisse bis heute reproduziert werden. Davon, dass wir in Deutschland global gesehen auf der günstigeren Seite der Macht stehen, können wir uns nicht freimachen – es ist, wie Spivak sagt, unsere „burden of the fittest“5. Solche hegemonialen Strukturen bestehen auch in europäischen, nationalen oder regionalen Kontexten fort: Geschichtlich und gesellschaftlich konstruierte Differenzmarker wie Hautfarbe oder markierte religiöse Symbole wie das Kopftuch bestimmen mit über gesellschaftliche Teilhabe oder den jeweiligen sozioökonomischen Status. Auch in unserer Sprache, Metaphorik, in unserer kulturellen Interaktion, in Geschlechterverhältnissen, in Wissenschaft und Wissen finden sich unzählige Relikte eigentlich bereits überwunden geglaubter Machtstrukturen. Sehr oft folgen diese Strukturen der Intention, eine eigene Identität zu konstruieren und diese Identität mit dem Wissen um die Fremdheit der Fremden zu stabilisieren. Ordnungen halten sich selber aufrecht, wie man mit Luhmann sagen könnte. Wir widersprechen uns als Menschen oft lieber inhaltlich selbst, als dass wir unsere klar abgrenzbaren Identitäten aufgeben. All das sind verschiedene Komplizenschaften mit Ausgrenzungsstrukturen, in sehr unterschiedlichen, sonst nur sehr schwer miteinander vergleichbaren Kontexten. Meine Frage, das ganze Dilemma allgegenwärtigen Otherings vor Augen, ist schlicht: und jetzt?
Genau, was jetzt? Das erklärt die problematischen Islam-Darstellungen, löst das Problem aber nicht.
Zuerst muss man die Umstände, wie sie sind, erst einmal annehmen. Eine feurige Anklage, wie sie beispielsweise Edward Said vornimmt, der in Orientalism (1978 [Link führt zum PDF], Vorwort 2003) eine durchgängige Linie hegemonialer Unterdrückung des Orients von Napoleon bis Georg W. Bush sieht, verbraucht sich schnell. Die inneren Widersprüche einer solchen Gleichsetzung lassen sich bald nicht mehr kaschieren. Eine solche Anklage verliert sich auch schnell in problematischen Schlüssen, wenn die Gründung des Staates Israel als kolonialer Akt gesehen wird, Israel und Japan von Gayatri Spivak als „two absurdities“ an den beiden Enden von Asien bezeichnet werden6 und Said sich sogar als palästinensischer Steinewerfer gegen Israel fotografieren lässt.7 Mir zeigen diese Beispiele, dass auch die postkoloniale Theorie vor einer problematischen Konstruktion des Anderen/Fremden nicht gefeit ist – was meiner Ansicht nach in der Rezeption immer noch zu wenig beachtet wird. Es ist davon auszugehen, dass überhaupt jede Theorie in problematischer Weise ein Fremdes, das dieser Theorie entgegensteht, mitkonstruiert.
Aber denkst du nicht, dass man nach einem so langen und hartnäckigen Bestehen ambivalenter Strukturen und Komplizenschaften nicht auch mal klagen muss? Wie sollte sich was ändern, nur durch Theorie und Metareflexion?
Ich will keinem Menschen Klage und Widerstand angesichts von Ausgrenzungsstrukturen verwehren. Wie könnte ich auch? Ich suche nach möglichst effektiven Methoden, wie sich Ausgrenzungsstrukturen überwinden lassen – und dazu muss ich sie möglichst gut verstehen. Der Logos erwächst aus dem Pathos, wie Bernhard Waldenfels sagt, die Reflexion erwächst aus der Erfahrung. Dieses Pathos ist kein Selbstzweck, sondern eine absolut niederschmetternde Erfahrung von Fremdheit, eine Erfahrung von Ausgrenzung und Sprachlosigkeit, Erfahrungen der Fremdheit von Umwelt, Anderen und nicht zuletzt und immer wieder der Fremdheit des eigenen Ichs. Besonders bitter werden die Erfahrungen, wenn sich zu alltäglichen Erfahrungen der Fremdheit, die alle Menschen erleben, Erfahrungen gesellschaftlicher Fremdheit gesellen. Wenn Menschen in nahezu allen Kontexten ihres Lebens als fremd markiert erscheinen, so fremd, dass sie nicht mehr gehört werden, wenn sie sprechen. Das ist für mich die schlimmste Form des Otherings. Auch wenn Othering und Fremdheitserfahrungen alltäglich sind, und wir als Menschen permanent komplizenhaft in Ausgrenzungsstrukturen verstrickt sind, sollte der Religionsunterricht zumindest dieser schlimmsten Form des Otherings entgegenwirken. Das ist die Linie, nach der ich suche, und dazu versuche ich zu verstehen, wie es zu solchem Othering kommt und auf welche Ordnungen es sich beruft.
Das ist der Wunsch, wie setzt du das aber um bzw. wie machst du Waldenfels’ Fremdheitsdefinition anschlussfähig für dein Thema?
Ich versuche in meiner Dissertation mehrere Zugänge zum Feld der Fremdheit zu verbinden, von denen der Ansatz von Waldenfels einer ist. Auf diese Weise möchte ich besser verstehen, von welchen Grundannahmen bzw. Fremdheitskonzepten Ansätze interreligiöser Bildung ausgehen. Ziel dieses Vorgehens ist es, einerseits die religionspädagogischen Anliegen konstruktiv zu würdigen, sie aber anderseits auch anschlussfähig zu machen für Anliegen, wie sie etwa die postkolonial beeinflusste Othering-Theorie beschreibt.
Nach dem oben beschriebenen Einblick in die Lehrwerke ist es nicht ganz überraschend, dass sehr viele religionspädagogische Ansätze Eigenes und Fremdes in essenzialistischer Weise begreifen. Sie beschreiben Fremdheit vor allem von der Fremdheitserfahrung her, von der Erfahrung fremder Phänomene. Ihr Zugang ist vor allem ein phänomenologischer Zugang, eine machttheoretische Reflexion der Fremdheitskonzepte in poststrukturalistischer oder postkolonialer Weise fehlt dagegen weitgehend.
Waldenfels ist vor diesem Hintergrund eine sehr gute Brückenreferenz. Zum einen bezeichnet sich Waldenfels selbst als Phänomenologe und wird auch in der Religionspädagogik sehr häufig rezipiert. Zum anderen ist er nicht nur ein sehr guter Kenner der phänomenologischen Philosophie Husserls, Merleau-Pontys und Levinas’, sondern auch der Philosophie Foucaults und Derridas, die beide ja auch in der postkolonialen Theorie häufig zitiert werden. Es gibt also durchaus theoretische Überschneidungen. Wichtiger für meinen Ansatz ist jedoch, dass Waldenfels die Erfahrung des Fremden mit einer eigenen Ordnung des Fremden in Verbindung bringt. Er sagt, dass Fremdheit das „Außer-ordentliche“ ist, das Unbekannte, Unverständliche, Exterritoriale, das sich eben nicht einfach so in die eigenen Ordnungen der Welt einordnen lässt. Dadurch initiieren Erfahrungen von Fremdheit einen doppelten Prozess: Wenn mir etwas fremd erscheint, erfahre ich die Grenzen meiner eigenen Ordnungssysteme – Fremdes hinterfragt gewissermaßen meine bestehende Ordnung der Welt und verkörpert andere Ordnungsmöglichkeiten der Welt, die nicht zu meinen bestehenden Ordnungen passen. Gleichzeitig ist natürlich schon die Identifikation von Fremdem wieder Ordnungshandeln: Ich definiere etwas als „unordentlich, unpassend“ und bekräftige damit gleichzeitig meine eigenen Ordnungen, die gewissermaßen „ordentlich“ sind. Othering, Fremdmachen, ist die dauerhafte Reproduktion solcher einfachen Fremdzuschreibungen und die mangelnde Bereitschaft, die eigenen, bestehenden Ordnungen zu hinterfragen. Der Ordnungsbegriff selbst, obwohl er für Waldenfels so zentral ist, wird in vielen religionspädagogischen Veröffentlichungen nicht hinreichend geklärt. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist es deshalb, Ordnungsprozesse des Fremden theoretisch besser zu verstehen, worunter auch Othering-Prozesse fallen.
Apropos Ordnung. Positiv siehst du ja ganz allgemein auch die Verbindung interreligiösen Lernens mit einem konfessionellen Religionsunterricht. Wie kann das deiner Meinung nach zusammengehen? Immerhin ist ja der konfessionelle Religionsunterricht vor dem Hintergrund pluralistischer Gesellschaften in Europa stark unter Legitimierungsdruck geraten (vgl. Gastbeitrag von Peter Antes: Konfessioneller Religionsunterricht unter Druck – Eine Chance für ein Alternativfach?, 2016).
Als explizit positiv bezeichne ich den konfessionellen Religionsunterricht in meinem MiGAZIN-Beitrag nicht. Woran machst du das fest?
Ich dachte es so, weil du evangelische und katholische Lehrwerke für den konfessionellen Unterricht untersuchst, katholische Theologie studiert hast und interreligiöses Lernen dein zentrales Thema ist.
Dass interreligiöses Lernen in den meisten Bundesländern im konfessionellen Religionsunterricht stattfindet, ist zunächst einmal derzeitige Realität. Ich würde aus heutiger Sicht aber präziser formulieren, was ich unter konfessionellem Religionsunterricht verstehe. Die Diskussion über ihn ist eine lang andauernde Debatte, die alle paar Jahre wieder hochkocht. Es gibt auch unter Religionspädagog*innen sehr kontroverse Ansichten zu dieser Frage.8 In der Tat ist ja zu fragen, ob der konfessionelle Religionsunterricht in seiner derzeitigen Form angesichts zunehmender gesellschaftlicher Pluralität noch zeitgemäß ist. Wie kann er überhaupt organisiert werden, wenn schon die Übernahme des Konfessionsbegriffes für nicht-christliche Religionen problematisch ist?9 Oder wenn auf christlicher Seite die Bindung zu den beiden großen Konfessionen in Deutschland abnimmt und es auch Lernenden und Lehrenden im christlich-katholischen und christlich-evangelischen Religionsunterricht zunehmend schwerfällt, zu benennen, was das konfessionelle Profil ihres Religionsunterrichts eigentlich ausmacht?10 Was wäre die Alternative: ein konfessionell-kooperativer „christlicher“ Religionsunterricht gegenüber einem kooperativen „islamischen“ Religionsunterricht? Oder sollte man sich vom Konfessionsbegriff verabschieden und konsequent auf einen eher religionskundlichen, weltanschaulich pluralen Religionsunterricht „für alle“ setzen?
Letzterem würde ich zustimmen. Du nicht?
Am Konfessionsbegriff schätze ich persönlich, dass er seine eigene Positionierung innerhalb einer gesellschaftlichen Pluralität klar benennt (oder zumindest benennen will). Und das ist, soweit ich die religionspädagogische Diskussion zu dieser Frage überblicke, auch die Mehrheit der Meinungen: Der Religionsunterricht muss erstens dringend pluraler werden, zweitens muss er aber seine eigene weltanschauliche Position klar benennen – dass Lernende die Möglichkeit haben, sich selbst zu ihr zu verhalten.
Kann man das von einem Individuum erwarten? Ich meine, dass es „klar“ seine weltanschauliche Position benennt. Wir haben es ja hier mit Identitätsbildung zu tun und die zeigt sich polymorph. Wer Weltbilder „klar“ benennen kann, ist mir verdächtig, wenn ich ehrlich bin. Er oder sie greift meines Erachtens zu sehr auf die Illusion kollektiver Identität zurück und die ist nicht nur politisch problematisch, sondern auch im Hinblick auf die Autonomie eines Subjekts fragwürdig, und damit auch pädagogisch schwierig.11
Da benennst du einen wichtigen Punkt. Du hast recht, ein Religionsunterricht sollte auf keinen Fall kollektive Identität konstruieren, hinter der individuelle Positionierungen verschwinden. Es geht mir auch nicht darum, dass Individuen die eigenen Weltvorstellungen bis ins Kleingedruckte aufschlüsseln. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn Lehrkräfte ihre grobe persönliche religiöse Orientierung nicht verschleiern und zum Beispiel deutlich machen, wenn sie sich selbst im Widerspruch zum unterrichteten Stoff sehen. Eine solche Benennung eigener Perspektiven ist aber immer eine nachträgliche Konstruktion, immer nur vorläufig. Sie ist, um einen Begriff von Luhmann zu gebrauchen, eine „Reduktion von Komplexität“ und gibt niemals eine vollständige Realität wieder. Deshalb auf eine weltanschauliche Selbstverortung zu verzichten, ist aber keine Alternative – auch um sich dem anzunähern, was man nicht sagen kann. Es ist zentral, das eigene „Schweigen zu vermessen“, wie Spivak sagen würde.
Es ist deshalb wichtig, dass Individuen lernen, ihre persönliche Weltanschauung zu entdecken und das, was ihr vorläufig verborgen bleibt. Ihre subjektive Weltanschauung ist aber niemals völlig autonom, sondern wird auch durch kollektive Ordnungsmuster geprägt. Irgendeine Form von kollektiver Prägung scheint zu existieren, sonst wäre auch die ganze postkoloniale Kritik unnötig. Es existieren soziale Ordnungen, die die Identität der Individuen prägen und es existieren auch Ordnungen des Unterrichts. Diese Ordnungen sind aber kein überindividuelles erkennendes Ich, sondern eben Ordnung, Regelhaftigkeit. Diese Regelhaftigkeiten, die die religiöse Identitätsbildung prägen, gilt es aufzudecken.
Aber was würde dieser Ansatz mit den Konfessionen machen? Gehen die zusammen mit einer widersprüchlichen Identitätsbildung?
Die konfessionelle Perspektive besitzt in der Diskussion um den Religionsunterricht eine mehrfache Bedeutung: Sie steht erstens für die Herausbildung einer individuellen religiösen Perspektive. Zweitens steht sie als Begriff für die Inhalte des religiösen Bekenntnisses selbst, die im Unterricht vermittelt werden. Drittens steht sie für den Umstand, dass der Religionsunterricht in einer pluralen Gesellschaft überhaupt eine „eigene“ religiöse Position benennt und nicht vermeintlich weltanschaulich neutral auftritt. Da ich die Vorstellung einer solchen Neutralität von weltanschaulich pluralen Formen des Religionsunterrichts für eine Illusion halte, erscheint mir besonders der letzte Punkt als Argument für einen konfessionellen Unterricht nachvollziehbar.
Das heißt, du siehst auch keinen Widerspruch zwischen den eher religionskundlichen Unterrichtsmethoden und Lernzielen interreligiösen und interkulturellen Lernens und einem
konfessionsgebundenen Unterricht, der sich – wie du selbst schreibst – überfordert fühlt neben der „eigenen“ Religion auch noch „multireligiöse [und] multikulturelle“ Aufgaben zu übernehmen, und ja am Bekenntnis zum Eigenen festhält?
Wie gesagt: Ein „Eigenes“ gibt es immer, ob ich will oder nicht. Selbst wenn ich sage, ich betrachte die Vielfalt der Religion aus religionskundlicher Perspektive, ohne Position zu beziehen – dann ist meine Position eben, dass ich keine Position beziehen will. Und genau diese (vermeintlich neutrale) Position kann in Konflikt mit anderen geraten, die im Gegensatz dazu sehr stark Position beziehen und weitere Positionen neben sich nicht zulassen. Plötzlich erkenne ich, dass meine eigene Position anderen Positionen fremd gegenübersteht, obwohl ich doch eigentlich keine Position beziehen wollte und gewissermaßen „über“ den Positionen und ihren Streitigkeiten stehen wollte. Insofern sehe ich keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen einem Bekenntnis des Eigenen und religionskundlichen Methoden – einfach allein deshalb, weil es eine Religionskunde „ohne Position“ nicht gibt. Einfach einen Gegensatz zwischen religionskundlichem und konfessionellem Religionsunterricht aufzumachen, führt am Kern des Problems vorbei. Religionskundlicher Unterricht muss klären, wie eine Religionskunde aussehen kann, die sich bewusst ist, dass sie eine eigene Position hat. Konfessioneller Unterricht muss klären, was denn seine Konfessionalität bedeutet. Und ich kann hier ein offenes Geheimnis verraten: Die kirchlich-dogmatische Position ist nicht gleich der Position der Lehrkräfte ist nicht gleich der Position der Lernenden. Was ist also die konfessionelle Position des Unterrichts? Um dies zu klären, brauchen wir einen konfessionellen Religionsunterricht, der im Wortsinne ein „Bekenntnis“, ein Offenlegen der eigenen Positionierungen ist – keinen konfessionellen Unterricht, der eine vorgegebene kirchliche Positionierung einfach nachbetet: Eine Person „verschmilzt“ in ihrer eigenen Positionierung mit der vorgegebenen Ordnung – oder gibt zumindest vor, es zu tun. Das ist es auch, was Spivak immer wieder kritisiert: Als forschende oder lehrende Person darf man sich selbst nicht „transparent“ machen, sollte nicht die eigenen Setzungen und Positionierungen verschleiern, denen man folgt oder die man vornimmt. Immer wieder ist zu beobachten, dass Religionspädagog*innen Lernende ermuntern, ihre eigene religiöse oder nicht-religiöse Positionierung zu finden, aber sehr schweigsam werden, wenn es darum geht, die ganz persönliche religiöse Position zu offenbaren. Die Art des Religionsunterrichts muss hierfür nicht entscheidend sein: Man kann sich ebenso gut hinter einer konfessionellen Ordnung des Religionsunterrichts verstecken, wie hinter einer weltanschaulich-pluralen Ordnung.
Ich finde, man kann sehr wohl seine weltanschauliche Position, die ja gar nicht religiös sein muss, in einem religionskundlichen Unterricht transparent machen, ohne dass damit eine affirmativ konfessionsgebundene Perspektive einhergehen muss. Und überhaupt — für die von dir geschilderte Problemlage wäre doch aber ein sensibles, beratungspsychologisches Gespräch zwischen Lehrenden und Lernenden zielführender. Warum hältst du noch so sehr am konfessionellen Unterricht fest, wenn er doch deines Erachtens auch die Ansprüche der religionskundlichen Ausrichtung erfüllen muss?
Es gibt noch eine weitere Ebene des konfessionellen Religionsunterrichts, die nicht zu vernachlässigen ist, und das ist seine rechtliche Begründung. Dass in einem Großteil der deutschen Bundesländer ein konfessioneller Religionsunterricht eingerichtet ist, im Gegensatz etwa zu Bundesländern wie Bremen und vielen europäischen Ländern, hat historische und institutionelle Gründe. Sehr wichtig ist mit Sicherheit, dass der schulische Religionsunterricht in Deutschland im Gegensatz zu anderen Schulfächern im Grundgesetz geschützt ist. In Art. 7 Abs. 3 steht: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ Was „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ bedeutet, ist nicht einfach zu klären. Im Allgemeinen wird der Gesetzestext rechtlich jedoch so interpretiert, dass Religionsunterricht in konfessioneller Form zu erteilen ist. In bestimmten Bundesländern trifft noch die sogenannte „Bremer Klausel“ zu, im Grundgesetz Art. 141: „Artikel 7 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.“ Länder wie Bremen bieten aufgrund dieser Klausel andere Formen des schulischen Religionsunterrichts an, etwas umstrittener ist es etwa im Fall von Brandenburg. Für den Religionsunterricht gibt es also innerhalb Deutschlands und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ganz unterschiedliche gesetzliche Voraussetzungen. Für die Diskussion um den konfessionellen Religionsunterricht bedeutet dies: Sicher muss vermehrt darüber nachgedacht werden, was „konfessioneller Religionsunterricht“ in einer pluralen Gesellschaft bedeuten kann und muss. In welchem organisatorischen Rahmen (konfessionell oder anders) der Religionsunterricht von Bundesland zu Bundesland stattfindet, wird aber hauptsächlich durch das Grundgesetz bestimmt. Dies gilt es, ob man will oder nicht, mitzubedenken, wenn man über Formen interreligiösen Lernens im schulischen Religionsunterricht nachdenkt.
Ich sehe derzeit nicht, dass sich an dieser verfassungsrechtlichen Grundlage schnell etwas ändern wird – es wäre hierzu ja auch eine Grundgesetzänderung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag nötig. Das lässt sich natürlich beklagen. Ich halte es jedoch für zielführender, die derzeitige Ordnungsrealität des föderal geprägten Religionsunterrichts vorläufig so anzunehmen, wie sie sich darstellt und nach Veränderungsmöglichkeiten innerhalb des derzeitigen Ordnungsrahmens zu suchen. Spivak hat für einen solchen Ansatz den Begriff des „strategischen Essenzialismus“ gefunden. Die derzeitigen Ordnungen des Religionsunterrichts sind wie alle gesellschaftlichen Ordnungen dekonstruierbar, aber dennoch sind sie derzeit gesellschaftlich wirkmächtig – was es als Befund erst einmal anzunehmen gilt. Das Ziel ist es jedoch, bei dieser Essenzialisierung nicht stehen zu bleiben, sondern quasi innerhalb einer Ordnung in zukünftige Ordnungen hinauszudenken, um so eine Veränderung der Ordnung zu erreichen. Aber dies geschieht eben innerhalb der derzeitigen Ordnungen und nicht außerhalb. Sich außerhalb der gesellschaftlichen, sogar grundgesetzlichen Ordnungen zu bewegen, erscheint schlicht nicht möglich. Ich möchte auf diese Weise zwei Dinge erreichen: Einerseits keine utopischen Diskussionen eröffnen, die derzeit kaum Verwirklichungsmöglichkeiten aufzeigen. Anderseits möchte ich die Situation nicht eindeutiger machen als sie ist. Es gibt nicht nur die Möglichkeit eines konfessionellen Religionsunterrichts oder nicht.
Die Diskussion um den konfessionellen Religionsunterricht bindet viele Energien. Gleichzeitig gibt es aber sehr spannende Studien aus Schleswig-Holstein. In einem dortigen Modellprojekt steht der evangelische Religionsunterricht auch für Kinder und Jugendliche anderer Religionen offen.12 Die Studien zeigen deutlich, wie viel „religiöse Vielfalt“ es mittlerweile unter dem Überbegriff des konfessionellen Religionsunterrichts in Deutschland gibt.
Was bedeutet diese Pluralisierung und Öffnung für den konfessionellen Religionsunterricht?
Für den christlich-konfessionellen Religionsunterricht lässt sich sagen, dass er seit seinen Anfängen als Unterweisungsunterricht eine lange Entwicklung durchgemacht hat. Er hat mehr interreligiöse Elemente als es zunächst scheint und öffnet sich allmählich für nicht religiös identifizierte Menschen. Es hat bereits heute eine positionelle Verschiebung des sogenannten konfessionellen Unterrichts stattgefunden. Dies bedeutet aber keine völlige inhaltliche Beliebigkeit. Zum Beispiel wird der christliche Auferstehungsglauben im evangelischen und katholischen Unterricht eine bedeutende Rolle spielen. Lernende von diesem Glauben aber zu überzeugen zu wollen, wird abgelehnt. Das heißt Religionsunterricht eröffnet einen Raum, sich zu diesem Glauben auch gegenteilig oder auf eine andere Weise zu positionieren. Dies ist nicht mehr so weit von religionskundlichen Darstellungen entfernt.
Eine andere sensible Frage ist der Unterricht über Geschlecht und Sexualität. Große Befragungen unter Katholik*innen zeigen, wie weit diese ihr eigenes Beziehungsleben außerhalb der katholischen Sexualnorm verorten (vgl. Lisi Maier im Gespräch mit Britta Bürger: Auch junge Katholiken wollen Sex vor der Ehe, Deutschlandfunk, 2014). Auch hier ist also ein gewisses konfessionelles Spannungsverhältnis zu beobachten. Wenn eine Lehrkraft eine Diskrepanz zur katholischen Lehrmeinung empfindet und die jugendlichen Lernenden, die sie unterrichtet, vielleicht noch mehr, wird dies Folgen für den Ablauf des Unterrichts haben.
Ich will die Gesamtlage aber nicht harmonisieren: Der Anfang unseres Interviews zeigt deutlich, dass im Religionsunterricht Strukturen existieren, die Othering begünstigen. Diese zu verändern, ist nicht immer so einfach, wie es vielleicht zunächst erscheint.
Vor diesem Hintergrund finde ich zwei Dinge sehr wichtig: Erstens, dass stärker um die konkreten Inhalte gerungen wird, die in den Lehrplänen und Lehrwerken stehen, und dass Religionspädagogik in Zukunft, soweit möglich, eine souveränere Position gegenüber der institutionellen Führung der jeweiligen Glaubensgemeinschaft einnimmt. Nicht die Frage, konfessionell oder nicht, sondern die konkret unterrichteten Inhalte bestimmen die Gestalt des Religionsunterrichts. Will man etwa postkoloniale Kritik stärker berücksichtigen, lassen sich auch in den heutigen Theologien Anknüpfungspunkte dafür finden.13
Und zweitens: Was in dem religionsunterrichtlichen Ordnungsrahmen tatsächlich für ein Unterricht stattfindet, hängt insbesondere von der Reflexion der einzelnen Lehrkraft ab. Ich halte deshalb für eines der wichtigsten Elemente eines zukunftsfähigen Religionsunterrichts die Lehrer*innenbildung. Zu ihr gehört ganz wesentlich die Fähigkeit, vorhandene Ordnungen zu reflektieren, die die Position des Unterrichts bestimmen. Positionen der Religionsgemeinschaft, genauso wie Positionen individueller Religiosität, milieubedingte und kulturelle Faktoren, aber auch institutionelle und organisatorische Faktoren des Unterrichts. Wenn der Religionsunterricht über ein klar erkennbares Profil verfügt, das eine solche Reflexion erleichtert, muss das nicht von Nachtteil sein. Eines ist aber sicher: Wie auch immer der Religionsunterricht am Ende aussieht, er wird nie ein „neutraler“ Religionsunterricht sein.
Ich danke dir sehr für das Gespräch.
Das Gespräch führte Alexander Graeff.
- Im Folgenden vor allem: Gruber, Bernhard (Hg.): Leben gestalten. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht am Gymnasium. 7. Jahrgangsstufe. Auer: Donauwörth 2007. Hilger, Georg/ Reil, Elisabeth (Hg.): Reli 7. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Hauptschulen in den Klassen 5 – 10. Kösel: München 1999. Mendl, Hans/ Schiefer Ferrari, Markus (Hg.): Religion vernetzt 7. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Gymnasien. Kösel: München 2005. ↩︎
- Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (Hg.): Keine Chance auf Zugehörigkeit? Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt. Ergebnisse einer Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung zu aktuellen Darstellungen von Islam und Muslimen in Schulbüchern europäischer Länder. Braunschweig 2011. ↩︎
- Beispielsweise Sajak, Clauß Peter: Interreligiöses Lernen im schulischen Religionsunterricht. In: Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch. Hrsg. von Bernhard Grümme, Hartmut Lenhard u. Manfred L. Pirner. Stuttgart: W. Kohlhammer 2012 (Praktische Theologie, Religionspädagogik, Diakonie). S. 223–233, S. 223. ↩︎
- Nipkow, Karl Ernst: Die Weltreligionen im Religionsunterricht der Oberstufe. In: Der evangelische Erzieher: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 13 (1961). S. 150–162. ↩︎
- Castro Varela, María do Mar u. Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2. Aufl. Bielefeld: Transcript 2015 (Cultural studies Bd. 36), S. 208. ↩︎
- Spivak: Other Asias [Oxford: Blackwell 2008], S. 11. ↩︎
- Castro Varela, María do Mar u. N. Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 145. ↩︎
- Vgl. Kenngott, Eva-Maria, Rudolf Englert u. Thorsten Knauth (Hrsg.): Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 2015 (Praktische Theologie heute 136); Lindner, Konstantin, Mirjam Schambeck u.a. (Hrsg.): Zukunftsfähiger Religionsunterricht. Konfessionell – kooperativ – kontextuell. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2017. ↩︎
- Vgl. Yilmaz, Burcu: Konfessionalität und Kooperation im Islamischen Religionsunterricht. In: Kooperation im Religionsunterricht. Chancen und Grenzen interreligiösen Lernens. Beiträge aus evangelischer, katholischer und islamischer Perspektive. Hrsg. von Rainer Möller, Clauß Peter Sajak u. Mouhanad Khorchide. 1. Aufl. Münster, Westf: Comenius-Inst 2017. S. 133–145. ↩︎
- Vgl. Pohl-Patalong, Uta, Johannes Woyke u.a.: Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt. Eine empirische Studie zum evangelischen Religionsunterricht in Schleswig-Holstein. 1. Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016; Pohl-Patalong, Uta, Stefanie Boll u.a.: Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt II. Perspektiven von Schülerinnen und Schülern. 1. Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. ↩︎
- Vgl. Emcke, Carolin: Kollektive Identitäten : sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt: Campus-Verl., 2000. Oder Jullien, Francois: Es gibt keine kulturelle Identität : wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur. Berlin : Suhrkamp, 2017. ↩︎
- Pohl-Patalong, Uta, Johannes Woyke u.a.: Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt. Eine empirische Studie zum evangelischen Religionsunterricht in Schleswig-Holstein. 1. Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016; Pohl-Patalong, Uta, Stefanie Boll u.a.: Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt II. Perspektiven von Schülerinnen und Schülern. 1. Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. ↩︎
- Nehring, Andreas u. Simon Tielesch (Hrsg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge. 1. Aufl. s.l.: Kohlhammer Verlag 2013; Nehring, Andreas u. Simon Wiesgickl (Hrsg.): Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2017. ↩︎