REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Gastbeitrag von Dr. Irene Dietzel, gesammelt auf der Jahrestagung der DVRW in Marburg, 2017. Irene Dietzel ist promovierte Religionswissenschaftlerin mit besonderem Interesse für alles Anthropologische. Nach einem Forschungsprojekt in den Mittelmeerstudien hat sie den Quereinsteig in die Schule gewagt und unterrichtet an einer Berliner Oberschule Religion und Ethik. Als Lehrbeauftragte an der Universität Potsdam gibt sie regelmäßig Einführungen in die Religionswissenschaft für angehende L‑E-R-Lehrer*innen.
Letzten September ließ ich meinen Unterricht an einer Berliner Oberschule vertreten, um an der Tagung der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) in Marburg teilzunehmen. Unter dem Motto der Konferenz, “Medien, Materialität, Methoden” waren innovative und altbewährte Ansätze der Religionsforschung versammelt. Ein roter Faden, der sich durch viele Panels und Pausengespräche zog, war auch hier die aktuelle Debatte um Relevanz und Vermittlung von religionswissenschaftlichem Wissen in außerakademischen Bereichen. In welchen Tätigkeitsbereichen des öffentlichen Lebens ist religionswissenschaftliche Expertise gefragt? In welchen Foren sollten Religionswissenschaftler*innen Diskurse über Religion aktiv(er) mitgestalten? Der Arbeitsbereich Schule ist sicherlich ein solches Forum. Auch wenn es die Fächerlandschaft (noch) nicht eindeutig widerspiegelt, ist religionskundliches Wissen auch außerhalb des konfessionellen Religionsunterrichtes immer stärker gefragt – so zumindest erfahre ich es in meinem eigenen Arbeitsalltag. Nach meiner eigenen Promotion in den Religionswissenschaften hatte ich, eher zufällig, den Quereinstieg in den Lehrerberuf gewählt, und unterrichte nun seit einigen Jahren die Fächer evangelische Religion und Ethik. Seither frage ich mich, wie diese Fächer sich verändern würden, wie sich die Institution Schule verändern würde, wenn mehr Kolleg*innen aus der Religionswissenschaft den Weg in die Sekundarbildung fänden.
Zum Thema gab es in Marburg auch ein Panel. Die Diskussionsrunde zur „Logik der Alternativfächer zum konfessionellen Religionsunterricht“ (Wöstemeyer / Alberts) bestärkte von ihrem Umfang her den Eindruck, dass das Interesse an schulischer Religionskunde durchaus groß ist, von ihrer Zusammensetzung her allerdings, dass die Verknüpfung von Religionswissenschaft und Fachdidaktik in der Praxis noch ausbaufähig bleibt; bezeichnenderweise war keine weitere Lehrkraft anwesend.
Dabei ist die Frage nach guter Religionskunde ein wachsendes Forschungsfeld. Es gibt solide Grundlagenforschung zur vielfältigen Fächerlandschaft in Europa (z.B. Alberts 2007, 2. Auflage 2012), kritische Stimmen in den Debatten um Bildungspolitik (z.B. Brocker et al. 2003) und diverse Unterrichtsmodelle (z.B. Kenngott et al. 2015). Zentral für dieses Forschungsfeld ist die Unterscheidung von konfessionellem und nicht-konfessionellen Unterricht – hier scheint das Verhältnis von religionskundlicher Fachdidaktik und der etwas etablierteren Religionspädagogik ähnlich gelagert zu sein wie das Verhältnis von Religionswissenschaft zur Theologie in der weiteren akademischen Landschaft. Der viel beschworene methodische Agnostizismus etischer Religionsforschung, zum Beispiel, erscheint, in bildungspolitischer Sprachführung, als ‚Weltanschauungsneutralität‘ – dass dieser Begriff trotz seiner Komplexität selbst jede Menge Probleme aufwirft, sollte hier zumindest nicht unerwähnt bleiben. Im Kontext des Brandenburger Schulfaches L‑E-R (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) lässt sich die Norm der Weltanschauungsneutralität in ein konkretes Regelwerk von Geboten und Verboten übersetzen. Sie entsteht demnach aus dem „Identifikationsverbot, Bewertungsverbot und Indoktrinationsverbot, sowie durch das Paritätsgebot, Mäßigungsgebot und Kontroversitätsgebot“ (vgl. Wels 2015). Ist das nicht ein bisschen viel an Reglementierung für dynamischen Unterricht?
Der vorliegende Beitrag ist kein Überblick über die Debatte oder Fächerlandschaft. Vielmehr interessierten mich die Stellungnahmen meiner Kolleg*innen zu der Frage, wie aus religionswissenschaftlicher Forschung ein Unterrichtsfach entstehen kann. Alle Befragten positionierten sich bereitwillig (und oft aus dem Stegreif) zu zwei konkreten Fragen:
1) Welches ist die aktuelle Forschungsfrage, worum geht es im aktuellen Forschungsprojekt?
2) Welche Inhalte und Perspektiven aus der eigenen Forschung sollten in ein Schulfach einfließen, das allein von der Religionswissenschaft verantwortetet wird?
Die nun vorliegenden ‚Shortcuts‘ zum Thema sind das Ergebnis einer methodisch zunächst unsystematischen Sammlung. Sie stellen keine angemessene Darstellung der einzelnen Forschungsprojekte dar – wer mehr wissen will, findet über eine kurze Online-Recherche gleich den Weg zu den Forschenden selbst. Die dennoch aufschlussreichen Impulse habe ich im Folgenden nach drei allgemeinen Beobachtungen kompiliert und jeweils in Bezug auf meine bisherige Schulpraxis kommentierend wiedergegeben.
1. Beobachtung: Religionskundlicher Unterricht wird durchaus als wertebildend gesehen
…zum Beispiel in Verbindung mit den umweltpolitischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. „Die Jugendlichen sollen wissen, was auf sie zukommt“ sagt Dr. Carrie B. Dohe. Im DFG-Projekt zu „Religionsmotivierten Umweltschutzbewegungen und ihren interreligiösen Netzwerken“ untersucht sie, wie sich im Zuge der Auseinandersetzung mit umweltpolitischen Fragen nicht nur die Rituale, Auslegungen und Feiertagskalender einzelner Religionsgemeinschaften verändern, sondern auch die interreligiösen Beziehungen selbst. Das gilt es, so Carrie Dohe, den Schüler*innen näher zu bringen. Hier würde sie ein religionskundliches Lernen begrüßen, das die theoretischen Elemente – das Lernen über intra- und interreligiöse Veränderungen – mit erlebnispädagogischen, ja partizipatorischen Elementen verbindet, wie z.B. eine Teilnahme am neuen Schöpfungstag.
Carrie Dohes Input liegt soweit ganz im Trend der aktuellen Bildungspolitik. Das Thema ‚Nachhaltigkeit‘ zieht sich durch viele neuere Rahmenlehrpläne als fächerübergreifende Komponente, bleibt aber schwerpunktmäßig in den naturwissenschaftlichen Fächern beheimatet. Der Bedarf an Impulsen aus den „Environmental Humanities“ ist demnach groß. Ob aufgrund der Aktualität von Nachhaltigkeit eine Schülerpartizipation an religiösen Festen für einen auf Neutralität und Überwältigungsverbot bedachten Unterricht salonfähig wird, bleibt abzusehen.
Doch handelt es sich hier ‚noch‘ um Religion oder eher um umweltaktives Handeln bereits bestehender gesellschaftlicher Gruppierungen? Die Frage nach der begrifflichen „Grenzziehung“ zwischen Religion und Nicht-Religion war auch gemeinsamer Grundgedanke der nächsten drei Gesprächsteilnehmer*innen, Kris Wagenseil vom REMID e.V. und Nachwuchswissenschaftler*innen Arne Laloi (MA) und Alexandra Jugelt (BA), beide von der Uni Frankfurt a.M. Deutlich wurde in dieser kleinen Gesprächsrunde auch, dass die notorische Frage nach der Definition von Religion durchaus gesellschaftspolitische Dimensionen hat und nicht „nur“ erkenntnistheoretischen Charakter.
Denn es ist für das Miteinander in unserer pluralisierenden Gesellschaft „durchaus von Relevanz, dass man sich auskennt mit der Art und Weise, wie Menschen sich die Welt erklären“, meint Kris Wagenseil. Viele Formen der Selbstbestimmung und Identitätskonstruktion haben auch einen religiös-spirituellen Aspekt. Ebenso zählen „Verschwörungsmythen“ zum religiösen Feld, egal, ob hier religiöse Minderheiten in der Welterklärung die Hauptrolle spielen, oder ob religiöse Minderheiten selbst solche Mythen über Andere produzieren.
Arne Laloi beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Religion und völkischen Bewegungen und ganz allgemein mit dem Verweben von politischem Engagement, Nationalismus und Religion, in historischer wie aktueller Perspektive. Religion ist ein wichtiger Faktor für die Konstitution gesellschaftspolitischen Interessensgruppen – das gilt es deutlicher zu zeigen. Lalois Gedanken liegen damit direkt im Schnittfeld der Fächer Religion, Geschichte und Politik. In einem aufschlussreichen Vergleich mit seinen eigenen Schulerfahrungen weist Laloi darauf hin, dass „Aha-Effekte“ oft erst aus einem akademischen Studium der Religionen resultieren, sich aber schon früher einstellen sollten. Zum Beispiel in Bezug auf religiöse Akteure im Dritten Reich: Sein eigener Geschichtsunterricht habe trotz schwerpunktmäßiger Bearbeitung dieser Phase deutscher Geschichte nicht einmal die Rolle der bekennenden Kirche thematisiert. Hier fehle es auch an gesellschaftspolitscher Aufarbeitung. “Was ist denn mit den ganze Leuten passiert, die während des Dritten Reichs als religiöse Führer unterwegs waren?“ Dies sollte Aufgabe eines religionswissenschaftlichen Lernens in der Schule sein.
Über Fragen der Selbstbestimmung und Identität hinaus sollten in der Schule auch Prozesse von Zuschreibung, von „religiösem ‚Othering‘“, in den Blick genommen werden, meint Alexandra Jugelt. Sie beschäftigt sich mit der westlichen Rezeption von buddhistischen Traditionen oder hinduistischen Praktiken, wie z.B. Yoga oder Tantra. Sind diese Traditionen nun religiös oder nicht? Wichtig seien hier aber auch konkrete Formen religiöser Zuschreibung in interpersonalen Situationen, da wo auch tagtägliche Diskriminierung entsteht.
Als Fazit dieser ‚Nachwuchs-Runde‘ läßt sich durchaus ziehen: Komplexitätssteigerung ist gesellschaftsbildender Auftrag eines von der Religionswissenschaft verantworteten Unterrichts. Im Lehrerjargon und mit einem Augenzwinkern könnte man sagen: Verwirrung ist bei Zeiten auch ein valides Unterrichtsziel, ein ‚Hä?‘ genauso wichtig, wie der erwünschte ‚Aha-Effekt‘.
2. Beobachtung: Der Religionsunterricht selbst ist paradigmatisch für den gesellschaftlichen Stellenwert von Religion – letzterer wird allerdings ganz unterschiedlich bewertet.
Religion verändert sich entlang gesellschaftlicher Vorzeichen. Je nachdem wie man fragt, hier aus der Perspektive eines Theologen und einer Religionssoziologin, fallen die Interpretation dieses Wandels unterschiedlich aus.
Dr. Peter Schüz, systematischer Theologe an der LMU München, forscht aktuell zur „Neudeutung und Transformation in der Interpretation des Kreuzes im modernen Protestantismus“. Für Schüz läßt sich dieser Wandel vor allem als eine Art Verlust religiösen Verstehens deuten. „Die tief implementierten Codes aus dem Christentum gehen verloren und sind dadurch schwerer zu vermitteln“. Diese Entwicklung erschwere nicht nur in der Schule, sondern auch in der Theologie das Beschreiben von komplexen dogmatischen Problemen. Dabei seien gerade die eschatologischen und kosmologischen Konzepte, wie Auferstehung oder Schöpfung, nicht zu umgehen. Peter Schüz beobachtet ganz richtig, dass das „Interesse bei Schülerinnen und Schülern durchaus hoch ist, diese fremd gewordenen Dinge zu verstehen“. Deshalb plädiert er dafür, „keine Scheu zu haben vor dem Befremdlichen im Christentum“. Der konventionelle Religionsunterricht „[neige] dazu […] Schülerinnen und Schüler ‚abzuholen‘ und sie auf ihre Lebenswelt hin zu fragen ‚Wie erlebst du das, […] Gott beim Spaziergang in der Natur zu suchen?‘ […] Ich glaube, das Interesse ist auch durchaus groß an den Dingen, die man erst mal für nicht vermittelbar hält, die sperrig sind, die antiquiert wirken, die vielleicht sogar abstoßend wirken auf den ersten Blick.“
„Fremdheit macht [also] den Reiz von religiöser Bildung aus“, so Schüz. Dies gilt sicherlich nicht nur für die Beschäftigung mit der eigenen, sondern vor allem für das Lernen über andere Religionen. Tatsächlich läßt sich das Interesse am Befremdlichen als intrinsische Motivation zum Lernen für die Zwecke des Unterrichts nutzen. Die Lehrkraft sollte sich dabei aber stets der latenten Gefahr von Exotisierung bewusst sein, die nicht nur das Ferne, sondern bei Übertragung auch potentielle Mitschüler*innen mitexotisiert. Diese Exotisierung wird dann relativiert, wenn man in das Kuriositätenkabinett der Religionen, ganz im Sinne dieses Inputs, immer auch die vermeintlich vertraute Religion mit einbezieht. Das erfordert von den Lehrkräften allerdings eine Kenntnis der eigenen Religion, die ja nach der von Schüz gegebenen Diagnose kaum noch flächendeckend vorhanden ist.
Einen anders gelagerten Blickwinkel auf den Stellenwert von Religion eröffnet die Forschung von Petra Klug. Die Religionssoziologin arbeitet derzeit am Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik der Universität Bremen an eigenen Forschungen zum Umgang mit Atheismus in den USA. Ihre Arbeit zeigt auf, dass Religion durchaus tief in der Gesellschaft ‚vorhanden‘ ist, nämlich in Form von Normierung. Ein Phänomen, welches in den Vereinigten Staaten zu diffuser bis konkreter Diskriminierung von Atheisten führt, u.a. über verschiedene Gesetzgebungen, und welches auch die Kriminalisierung bestimmter Lebensentwürfe mit sich führen kann. In diesem Sinne formuliert Petra Klug eine ausgefeilte Arbeitsdefinition von Religion, die auch normierende Dimensionen erfasst: Religion ist demnach „ein System von Normen, die nur von einigen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werden, aber mitunter als für alle verbindlich gesetzt werden.“
Es sei deshalb Aufgabe eines religionskundlichen Unterrichtes, einen verkürzten Religionsbegriff zu erweitern: Über das, was „religiöse Menschen tun“ hinaus, zu dem, was „Religion in der Gesellschaft macht“. Letztlich wäre dann auch die Thematisierung des Religionsunterrichtes in der Schule selbst ein notwendiger Unterrichtsinhalt, samt des Konfliktes, der in der Diskussion um Religion und Schule entsteht. Denn es sind die Konflikte kleineren und auch größeren Ausmaßes, wie z.B. der 11. September 2001 oder die Gesetzgebungen zur Abtreibung, in denen die „erzwungene Verbindlichkeit“ von religiösen Normen sichtbar werden. Als Nebenbemerkung zur Debatte um die Aktualität und den Sendungsauftrag der Religionswissenschaft ergänzt Klug, dass „religionswissenschaftliche Forschung die aktuelle Situation sehr viel besser beschreiben, abbilden und analysieren“ kann. Den Eindruck teile ich völlig, und denke auch, dass darin – in aller Einfachheit – die Notwendigkeit eines religionswissenschaftlichen Schulfaches gründet.
3. Beobachtung: Im Sinne des Konferenzthemas „Medien, Materialität, Methoden“ wird Religion schlichtweg anders, bzw. woanders ‚verortet‘.
..zum Beispiel im virtuellen Raum, wie ich in einem Gespräch mit Dr. Frederik Elwert erfahren durfte. Am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Uni Bochum erforscht Elwert, wie religiöse Autoritäten fernab geläufiger Institutionen entstehen. In einem Forschungsverbund mit Informatikern werden große Datenmengen aus christlichen und muslimischen Online-Foren ausgewertet. Die neue ‚Verortung‘ von Religion bedingt, ganz im Sinne der Konferenz, auch neue Methoden der Forschung.
Interessant für den Schulunterricht ist Elwerts Beobachtung, dass die vornehmlich “neo-konservativen“ Foren, die untersucht werden, Gemeinsamkeiten aufweisen in Bezug auf die Themen, die Jugendliche „religiös bewegen“. Oft finden Jugendliche gleiche Antworten auf zentrale Fragen, ganz gleich, ob dies in einem christlichen oder muslimischen Kontext geschieht, und können selbst religiöse Autorität entwickeln. Für Elwert wäre es deshalb wichtig im Unterricht an die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen anzuschließen, sie ‚abzuholen‘ (man bemerke hier den Kontrast zur Einschätzung von Peter Schüz). Darüber hinaus gilt auch für Elwert die Devise: Religionskunde sollte vor allem die Vielfalt innerhalb von Religionen, als auch die Gemeinsamkeiten dazwischen abbilden.
Mit Blick auf die Praxis lässt sich durchaus bestätigen, dass diese Devise mittlerweile beherzigt wird. Dennoch sind Methoden und Inhalte des notwendigen Religionsvergleichs nicht immer im Sinne der Religionswissenschaft: Vergleiche, die sich das Aufdecken von Gemeinsamkeiten als Ziel setzen, können zu ‚Artefakten‘ führen, zu einer konstruierten Gleichwertigkeit, z.B. als eine in allen ‚Weltreligionen‘ vorhandene ‚goldene Regel‘. Wird Vielfalt hingegen innerhalb einer Weltreligion gesucht, dann fallen ‚Problemkandidaten‘, wie zum Beispiel weltverneinende evangelikale Bewegungen innerhalb des reformierten und protestantischen Christentums, aus dem Blickfeld.
Von allen Teildisziplinen der Religionsforschung korrespondiert die Ethnologie wohl am meisten mit dem Motto der Tagung, und das nicht aufgrund eines neueren material turn, sondern dank der für die Disziplin typischen Methoden und Perspektiven. Materialität und Medien waren immer schon Felder ethnographischer Aufmerksamkeit. Religion wird hier aber auch schlichtweg anders verortet, z.B. gänzlich eingebettet im Konzept Ethnie oder innerhalb des Gesamtphänomens sozialer Kognition.
So definiert Prof Dr. Manja Stephan-Emmrich (frei nach der Keynote von Birgit Meyer), Religion als „materiellen Vermittlungsprozess“, der empirisch beobachtet werden kann. Am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der HU Berlin forscht sie zu transregionalem Islam in Tadschikistan und der arabischen Golfregion. Konkret geht es in ihrem aktuellen Projekt um das Phänomen der Verschränkung von Arbeits- und Bildungsmigration mit muslimischen Frömmigkeitsprojekten. „Muslimische Mobilitäten“ ist dabei ein Selbstkonzept tadschikischer Arbeitsmigrant*innen im arabischen Raum. Dieses hilft, analytisch neue Perspektiven auf die Diversität und Dynamik innerhalb des Islams, aber auch des Christentums zu erkennen, sowie den steten Prozess der Interaktion und des Austausches dieser Traditionen in ihrer globalen wie lokalen Dimension nachzuzeichnen. Im Religionsunterricht, so Stephan-Emmrich, sollte gerade diese „transregionale Verflechtungsgeschichte“ sichtbar gemacht werden.
Tatsächlich wären den geisteswissenschaftlichen Unterrichtsfächern mehr Impulse aus der Ethnologie und Anthropologie zu wünschen, leider kommen letztere als Bezugsdisziplinen erst in den Oberstufenseminaren zum Tragen. Der Aspekt der „Verflechtungsgeschichte“ wird partiell auch für die Mittelstufe als Lehrinhalt aufbereitet, insbesondere durch neue Impulse aus der ‚globalen Bildung‘, die als fächerübergreifende Komponente aber oft nur sporadisch über externe Träger ermöglicht wird.
Doch letztlich geht es Stephan-Emmrich wohl um das Einüben des ethnologischen Blicks auch und vor allem für das Deuten der eigenen Lebenswelt. Sie sieht Ethnologie als „Werkzeug um die Welt zu verstehen und zwar so, wie sie Andere wahrnehmen“. Stephan-Emmrich spricht hier von einem wertvollen „skill“ zur Lebensgestaltung – in dieser Weise kompetenznah formuliert, könnte es schon fasst im Lehrplan eines solchen Faches stehen, auch für die Mittelstufe.
Fazit
Auch wenn es ein völlig voreingenommenes Urteil ist: Religionswissenschaftler*innen sind sprachfähige Religionserklärer. Es ist die ganz spezifische Art und Weise über Religion zu sprechen, die für Schülerinnen und Schüler bereits eine überraschende Lernanforderung in sich birgt. Denn die Religionsforschung entspringt gerade nicht, wie von den meisten antizipiert, aus einer ‚Suche nach Gott oder dem Göttlichen‘, sondern stellt Fragen nach dem Menschen in sozialen, materiellen und ökologischen Gefügen. Dabei geht es bei weitem um mehr als um Normen und Werte – und darin liegt bereits eine weitere wertvolle Lernanforderung. Religiosität ist weder ein Garant für Gutmütigkeit, noch lassen sich religiöse Phänomene auf Ethik reduzieren. Ein Restbestand bleibt, der nun geschichtlich, soziologisch, kultur- oder sprachwissenschaftlich entschlüsselt werden muss. Dafür ist gerade die Interdisziplinarität von Nöten, auf der sich die Religionswissenschaft gründet.
Darüber hinaus hinterfragt die Religionswissenschaft ihre Begrifflichkeiten stets aufs Neue. Sie betreibt dabei einen Diskurs über die eigene Legitimation innerhalb einer Forschungslandschaft, die immer mehr den Anforderungen eines enthemmten Wissensmarktes genügen muss. Es ist berechtigt zu fragen, ob eine krisengeschüttelte Wissenschaft überhaupt für die Schule elementarisiert werden kann und soll. Aus dem Gesamtklang der hier vorliegenden Beiträge meine ich aber ein deutliches Sendungsbewusstsein herausgehört zu haben. Religionswissenschaftliches Verstehen ist wichtig für die Gesellschaft. Die Institution Schule kann dieses Verstehen zugängig machen, es multiplizieren. Ob das Fach Religionskunde nicht nur auf Wissens- und Deutungsebene Kompetenzen fördert – sondern aus dem Unterricht letztlich auch lebensgestalterische Kompetenzen folgen können und müssen, wird sich in zukünftiger Fachentwicklung zeigen.
Irene Dietzel
Literatur
Alberts, Wanda. (2012). Integrative Religious Education in Europe: A Study-of-Religions Approach. DeGruyter Verlag. 2. Auflage.
Brocker, Manfred; Behr, Hartmut u. Hildebrandt, Mathias (2003). Religion — Staat — Politik: Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Kenngott, Eva-Maria; Englert, Rudolf u. Knauth, Thorsten (2015). Konfessionell — interreligiös — religionskundlich: Unterrichtsmodelle in der Diskussion. Kohlhammer Verlag.
Wels, Nicolett (2015), „Welche Anforderungen stellt die religiös-weltanschauliche Neutralität an den Unterricht des Faches Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde?“ in: Kenngott et al. (2015). Konfessionell — interreligiös — religionskundlich: Unterrichtsmodelle in der Diskussion. Kohlhammer Verlag.