Freigeistige Organisationen als Gegenstand der Religionswissenschaft: Typen, Strategien, Widersprüche

Diesen Monat erschien die Dis­ser­ta­tion von Ste­fan Schröder (Uni­ver­sität Bayreuth), Freigeistige Organ­i­sa­tio­nen in Deutsch­land. Weltan­schauliche Entwick­lun­gen und strate­gis­che Span­nun­gen nach der human­is­tis­chen Wende (Berlin: De Gruyter). Wir kon­nten ihn für ein Inter­view gewin­nen. Und auch wenn unklar ist, für welchen Anteil der Men­schen ohne Zuord­nung in der REMID-Sta­tis­tik die freigeisti­gen Ver­bände wie der Human­is­tis­che Ver­band Deutsch­lands (HVD), der (größ­ten­teils deutsche) Inter­na­tionale Bund der Kon­fes­sion­slosen und Athe­is­ten (IBKA) oder die Gior­dano-Bruno-Stiftung (GBS) ein Sprachrohr sein kön­nten, die Strate­gien und weltan­schaulichen Konzepte, um die es im Inter­view gehen wird, strahlen weit über die 0,05 Mio. an Mit­glied­schaften und 0,35 Mio. geschätztes Umfeld.

Vielle­icht war es gar kein so schlechter Zufall, dass ich nach ein­er Paral­yse wegen der aktuellen poli­tis­chen Ereignisse die Kri­tis­che The­o­rie für mich wieder­ent­deck­te und ihre aktuelle Rezep­tion nach­schlug. So ent­decke ich in den Unter­la­gen, die Du mir zur Vor­bere­itung geschickt hast, das Stich­wort der “Dialek­tik der Aufk­lärung”. Du sagst, es gebe in Deutsch­land keine ein­heitliche freigeistige Bewe­gung. Wie ist das gemeint und was hat die Aufk­lärung damit zu tun?

Ich habe mich im Rah­men mein­er Dis­ser­ta­tion der freigeisti­gen Szene explo­rativ genähert und dabei fest­gestellt, dass es auf organ­isatorisch­er Ebene zwei Ide­al­typen gibt, die sich weltan­schaulich nicht unähn­lich sind, trotz­dem jedoch strate­gisch gegeneinan­der arbeit­en und deshalb nicht als ein­heitliche Bewe­gung begrif­f­en wer­den kön­nen. Bei allen weltan­schaulichen Ähn­lichkeit­en lassen sich aber auch auf dieser Ebene einige Unter­schiede zwis­chen den bei­den Organ­i­sa­tion­stypen aus­machen. Das Stich­wort „Dialek­tik der Aufk­lärung“ bekommt in diesem Zusam­men­hang für meine Analy­sen seine Bedeu­tung. Ich habe es als the­o­retis­chen Code für die Ansicht des einen – sozial­prak­tis­chen – Organ­i­sa­tion­sty­pus ver­wen­det, um dessen kri­tis­che Reflex­ion von Ratio­nal­isierung und (tech­nis­chem) Fortschritt zu fassen. Dieser Anschau­ung fol­gend sind Fortschritt, Aufk­lärung und Ratio­nal­isierung nicht per se pos­i­tiv zu inter­pretieren, son­dern müssen stets weltan­schaulich „begleit­et“ und – wo nötig – auch begren­zt beziehungsweise gebremst wer­den. Beispiel­haft wird häu­fig Naturz­er­störung oder die Entwick­lung von Atom­waf­fen als Folge tech­nis­chen Fortschritts ange­führt, um zu verdeut­lichen, dass es an ein­er solchen weltan­schaulichen Kon­trolle mitunter fehlt. Der andere – weltan­schaulich-ago­nale – Organ­i­sa­tion­sty­pus hinge­gen sieht das Prob­lem ger­ade darin, dass Aufk­lärung, Fortschritt und Ratio­nal­isierung von weltan­schaulichen – v.a. religiösen – Anschau­un­gen begren­zt und gebremst wer­den, die zum Teil jahrtausendealt und den entsprechen­den fortschrit­tlichen Entwick­lun­gen deshalb nicht gewach­sen sind. GBS-Vor­stand Schmidt-Salomon spricht in diesem Zusam­men­hang von ein­er „Zeit der Ungle­ichzeit­igkeit“ und warnt nicht vor der Entwick­lung von Atom­waf­fen per se, son­dern davor, dass die falschen, weltan­schaulich „unreifen“ Men­schen diese unter ihre Kon­trolle brin­gen kön­nten. Die Lösung wird entsprechend nicht darin gese­hen, Aufk­lärung und Fortschritt weltan­schaulich einzu­gren­zen, son­dern vielmehr zu ent-gren­zen und auch auf weltan­schauliche Entwick­lun­gen zu über­tra­gen.

Bücher­tisch der Gior­dano-Bruno-Stiftung auf ein­er Tagung zum Evokids-Pro­jekt in Gießen. © Ste­fan Schröder.

Holen wir doch noch etwas weit­er aus. Warum hast Du eigentlich “freigeistig” als Ober­be­griff gewählt? Warum hast Du Dich als Reli­gion­swis­senschaftlich­er für dieses The­ma und diesen Zugriff entsch­ieden?

Es gibt drei Merk­male, an denen ich den Begriff „freigeistig“ wesentlich fest­mache: Eine nat­u­ral­is­tis­che Welt­sicht, eine her­aus­fordernde Hal­tung gegenüber dem jew­eili­gen religiösen Estab­lish­ment und – gle­ichzeit­ig – eine aus­geprägte Reli­gions­be­zo­gen­heit (daraus erk­lärt sich die reli­gion­swis­senschaftliche Rel­e­vanz des Gegen­standes), die je nach Kon­stel­la­tion unter­schiedlich aus­geprägt sein kann – z.B. kri­tisch, dial­o­gori­en­tiert, imi­tierend oder koop­er­a­tiv. Organ­i­sa­tio­nen, die ich von dieser Begriffs­bes­tim­mung aus­ge­hend als „freigeistige Organ­i­sa­tio­nen“ fasse, entste­hen in Deutsch­land Mitte des 19. Jahrhun­derts. Wichtig für ihre Genese waren zunächst freire­ligiöse Refor­mge­mein­den, die sich von bei­den Großkirchen abspal­teten und deren Mit­glieder ein Leben frei in ihrer Reli­gion führen woll­ten. Sie ver­standen sich also zunächst noch als „religiös“ (einige tun es bis heute) [zumeist als „freire­ligiös“; Anm. C.W.] – trotz­dem trafen die drei oben genan­nten Bes­tim­mungsmerk­male von „freigeistig“ bere­its auf sie zu. Aus diesem Grunde habe ich die im wis­senschaftlichen Diskurs häu­fig ver­wen­de­ten Begriffe „nichtre­ligiöse“ oder „säku­lare Organ­i­sa­tio­nen“ eben­so ver­wor­fen wie den Begriff „Frei­denker-Organ­i­sa­tio­nen“. Die Frei­denker­tra­di­tion entste­ht etwas zeit­ver­set­zt zu den freire­ligiösen Gemein­den seit etwa 1870. Sie greift die kirchenkri­tis­chen Ansicht­en der Freire­ligiösen auf, weit­et sie jedoch zu ein­er all­ge­meinen Reli­gion­skri­tik aus – Frei­denker wollen frei von Reli­gion leben. Aus bei­den Tra­di­tio­nen – freire­ligiös und frei­denkerisch – set­zt sich das zusam­men, was ich als „freigeistig“ beschreibe. Heute nen­nen sich diese Organ­i­sa­tio­nen häu­fig „human­is­tisch“ – das ist in Deutsch­land allerd­ings erst seit etwa 1980 der Fall und ergab sich aus einem Aus­tausch mit „human­is­tis­chen“ Organ­i­sa­tio­nen im Aus­land, v.a. Nor­dameri­ka, Skan­di­navien, den Nieder­lan­den und Bel­gien, deren Selb­stver­ständ­nis man für sich neu auf­griff. Ich nenne diese Entwick­lung für die organ­isierte freigeistige Szene in Deutsch­land „human­is­tis­che Wende“. Der Begriff „Human­is­mus“ bietet sich deshalb meines Eracht­ens an, um die freigeistige Szene seit dieser Wende zu beschreiben – vorher war er in ihr und zu ihrer Beschrei­bung aber vol­lkom­men unüblich.

Schließlich nen­nen viele Wis­senschaftler die von mir unter­suchte Szene auch ein­fach „athe­is­tisch“. Begriff­s­lo­gisch umfasst „Athe­is­mus“ aber lediglich das Abstre­it­en der Exis­tenz ein­er oder mehrerer Got­theit­en oder – wenn man es weit auslegt – tran­szen­den­ter Prinzip­i­en. Das spielt zwar in allen Organ­i­sa­tio­nen, die ich unter­sucht habe, in der ein oder anderen Weise eine Rolle, ist aber für keine von ihnen ein entschei­den­des, geschweige denn zu ihrer Beschrei­bung hin­re­ichen­des Merk­mal. Einige lehnen es als Selb­st­beze­ich­nung sog­ar aus­drück­lich ab, weil es nat­u­ral­is­tis­che Gottes­be­griffe gebe, mit denen man sich dur­chaus iden­ti­fizieren könne.

„Freigeistig“ ist ein Begriff, der seit der Entste­hung der Organ­i­sa­tio­nen, die im Fokus mein­er Arbeit ste­hen, emisch und etisch zu ihrer Benen­nung ver­wen­det wird. Er reicht somit his­torisch weit genug zurück und umfasst sowohl die freire­ligiöse als auch die frei­denkerische Tra­di­tion­slin­ie. Zudem ist er umfassend genug, um nicht einzelne Aspek­te, wie den Athe­is­mus, überzu­be­to­nen.

Schlussszene ein­er Jugend­feier des HVD im Berlin­er Friedrich­stadt­palast. © Ste­fan Schröder.

Du unter­schei­dest einen “sozial­prak­tis­chen” und einen “weltan­schaulich-ago­nalen Organ­i­sa­tion­sty­pus”. Welche Rolle spielt da eigentlich der Nat­u­ral­is­mus? Oder anders gefragt: Wür­den Geisteswissenschaftler*innen eher zum HVD gehen und warum?

Wie schon gesagt, ist Nat­u­ral­is­mus ein Merk­mal, das alle freigeisti­gen Organ­i­sa­tio­nen in Deutsch­land ausze­ich­net. Sie sind zwar mehr oder weniger mate­ri­al­is­tisch, sind sich jedoch dahinge­hend einig, dass es auf der Welt „mit recht­en Din­gen“ zuge­ht, Naturge­set­ze also niemals über­schrit­ten wer­den kön­nen.

Ein wichtiges Merk­mal für das Selb­stver­ständ­nis freigeistiger Organ­i­sa­tio­nen ist der Anspruch der „Wis­senschaftlichkeit“ eigen­er Ansicht­en. Demzu­folge geht Weltan­schau­ung zwar immer auch über Wis­senschaft hin­aus, darf jedoch nicht in Wider­spruch zu ihr ger­at­en. Dabei gibt es aber Unter­schiede hin­sichtlich der Diszi­plinen, die jew­eils rezip­iert wer­den. Der weltan­schaulich-ago­nale Organ­i­sa­tion­sty­pus tendiert sehr stark in die Rich­tung der „harten“ Natur­wis­senschaften. Um zum Beispiel Soziales zu erk­lären, wird hier gern auf die Sozio­bi­olo­gie und nicht auf die Sozi­olo­gie rekur­ri­ert. Kul­tur- und Geis­teswis­senschaftler erscheinen eher sus­pekt, weil sie zu viel rel­a­tivieren. Der sozial­prak­tis­che Organ­i­sa­tion­sty­pus, dem auch der HVD nah­este­ht, ist für diese Diszi­plinen offen­er. Es gibt aber auch viele Geisteswissenschaftler*innen in den Rei­hen weltan­schaulich-ago­naler freigeistiger Organ­i­sa­tio­nen und zahlre­iche Naturwissenschaftler*innen, die HVD-Mit­glieder sind. Generell lässt sich hier also kein Urteil darüber fällen, wer welch­er Organ­i­sa­tion näher­ste­ht.

Nur der “weltan­schaulich-ago­nale Organ­i­sa­tion­sty­pus” wird als “säku­lar­isierend” inter­pretiert. Wieso – und was heißt dann “Säku­lar­isierung”?

Zunächst ein­mal sei gesagt, dass die These, freigeistige Organ­i­sa­tio­nen wür­den stets reli­gion­skri­tisch und somit säku­lar­isierend wirken, im wis­senschaftlichen Diskurs über sie stark ver­bre­it­et ist. Zu Rate gezo­gen wird dabei i.d.R. ein Säku­lar­isierungsver­ständ­nis à la Casano­va, das unter­schiedliche Ebe­nen von Säku­lar­isierung (gesellschaftliche Dif­feren­zierung, Pri­vatisierung von Reli­gion, Rück­gang indi­vidu­eller Reli­giosität) dif­feren­ziert. Dieser These ein­er säku­lar­isieren­den Funk­tion freigeistiger Organ­i­sa­tio­nen entspricht der weltan­schaulich-ago­nale Organ­i­sa­tion­sty­pus, weil er das Ziel ver­fol­gt, weltan­schauliche Diskurse reli­gion­skri­tisch zu bee­in­flussen, für eine laizis­tis­che Reform des deutschen Reli­gion­srechts stre­it­et und somit religiöse Stim­men aus der öffentlichen und poli­tis­chen Sphäre zurück­zu­drän­gen ver­sucht. Der sozial­prak­tis­che Organ­i­sa­tion­sty­pus jedoch ver­tritt andere Ansicht­en und ver­fol­gt eine gegen­sät­zliche Strate­gie: Das Reli­gion­srecht soll beispiel­sweise nicht laizis­tisch reformiert wer­den – man möchte stattdessen selb­st davon prof­i­tieren, indem man sich in dieses inko­r­pori­eren und den Kirchen somit rechtlich gle­ich­stellen lässt. Damit fes­tigt man gle­ich­sam Arrange­ments (wie z.B. die „hink­ende Tren­nung von Kirche und Staat“), die das Gegen­teil von Säku­lar­isierung im oben genan­nten Sinne bedeuten.

Wenn ich mir verge­gen­wär­tige, was „Nat­u­ral­is­mus“ um 1800 bedeutet hat, etwa in dem Werk „Ueber die Wahl zwis­chen Nat­u­ral­is­mus, Athe­is­mus und Chris­ten­thum“ von Daniel A. Eich­horn (1812), näm­lich eher einen von Spin­oza und anderem bee­in­flussten Pan(en)theismus, erscheint es mir wichtig, ein Frageze­ichen an die his­torische ideengeschichtliche Lin­ie zu set­zen. Auf der anderen Seite ist es ver­ständlich, dass mod­erne Naturalist*innen eine Geschichtss­chrei­bung des Nat­u­ral­is­mus betreiben, welche ihnen wichtige Vordenker*innen ver­sam­melt. Einen „Nat­u­ral­is­mus“ im engeren Sinne würde ich selb­st eher um 1900 verorten: der Über­gang von mech­a­nis­tis­chen, aber weit­er­hin speku­la­tiv­en Welt­bildern zu biol­o­gisch und physikalisch „mod­ern“ grundierten Philoso­phien, der Wiener Kreis, die entsprechende Kun­stepoche.

Die Diskus­sion ver­schieden­er Nat­u­ral­is­mus-Konzepte würde an dieser Stelle zu weit führen. Die Art von nat­u­ral­is­tis­chem Welt­bild, um die es mir geht, liegt bei allen unter­sucht­en Organ­i­sa­tio­nen vor…

Ich erläuerte dieses Ele­ment nur deshalb so aus­führlich, nicht weil ich unbe­d­ingt den HVD vertei­di­gen wollte, aber ich sehe da Par­al­le­len zu aktuellen gesellschaftlichen Fragestel­lun­gen und finde es inter­es­sant, kön­nten wir diese Lin­ie ver­tiefen. Worauf ich hin­aus will: Müsste man nicht eher davon sprechen, dass unter­schiedliche Wege des skep­tis­chen Denkens beschrit­ten wur­den, zuge­spitzt zunächst in den geis­teswis­senschaftlich inspiri­erten Philoso­phien im Unter­schied zu natur­wis­senschaftlich inspiri­erten Philos­phien? Es gibt doch auch eine pro­gres­sive nicht- oder anti-nat­u­ral­is­tis­che Tra­di­tion. Ger­ade der u.a. marx­is­tisch bee­in­flusste Struk­tu­ral­is­mus und erstrecht unter Post­struk­tu­ral­imus, Post­mod­erne ver­han­delte Philoso­phien, die ein­gangs genan­nte Kri­tis­che The­o­rie, sie arbeit­eten sich kri­tisch („anti-essen­zial­is­tisch“) an nat­u­ral­is­tis­chen Posi­tio­nen ab. His­torisch waren es vor 1933 jene Frei­denker-Ver­bände, welche sich sozial­is­tisch oder ‘bürg­er­lich’ posi­tion­ierten, abspal­teten und wiedervere­in­ten.

Machen wir es prak­tisch: Während mein Beitrag „Darf man den Islam kri­tisieren?“ (Dezem­ber 2014) aus dem IBKA-Umfeld mit „Dem­a­goge oder Dünnbret­tbohrer?“ (Mai 2015) beant­wortet wurde – und ich hier eher Sym­pa­thien mit rig­orosen Islam­poli­tiken sehe, ste­ht der HVD doch eher für eine ‚links-grüne‘ Inte­gra­tionspoli­tik, mit ihrem tat­säch­lich ja auch irgend­wo reli­gion­swis­senschaftlich bee­in­flussten ‚weit­en‘ Reli­gions­frei­heits­be­griff. Und diese koop­er­a­tive Form eines säku­laren Staates, der mit Reli­gion­s­ge­mein­schaften Verträge macht, muss nicht als regres­siv bew­ertet wer­den. In der REMID-Sta­tis­tik kom­men­tieren wir die dor­ti­gen Angaben, dass auch bes­timmte linke Grup­pen als organ­isierte Kon­fes­sions­freie begrif­f­en wer­den kön­nen, darunter die „inter­ven­tion­al­is­tis­che Linke“: “Die religiösen Fun­da­men­tal­is­men unser­er Zeit, sie bleiben unsere uner­bit­tlichen Feinde, auch in Zeit­en und Kon­stel­la­tio­nen, in denen sie in Feind­schaft zur impe­ri­alen Ord­nung ste­hen. […] Doch den Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis wer­den wir weniger in der Reli­gion­skri­tik find­en als in den Nieder­la­gen und dem Scheit­ern emanzi­pa­torisch­er Gesellschaft­sen­twürfe”. Kön­nte man es also nicht auch so sehen, dass sich etwas ver­schoben hat, um es im Stil der Let­zt­ge­nan­nten zu fra­gen: Hat sich der ‚Hauptwider­spruch‘ im freigeisti­gen Milieu eventuell verän­dert, weg von Reli­gion­skri­tik?

Auch was die Rolle der Reli­gion­skri­tik für Selb­stver­ständ­nis und Prax­is freigeistiger Organ­i­sa­tio­nen bet­rifft, gibt es erhe­bliche Unter­schiede zwis­chen den bei­den von mir rekon­stru­ierten Organ­i­sa­tion­stypen. Für den weltan­schaulich-ago­nalen Organ­i­sa­tion­sty­pus ist Reli­gion­skri­tik noch immer zen­tral und auch eine Art Exis­ten­zle­git­i­ma­tion. Reli­gion spielt als „das Andere“, als Antag­o­nist, eine erhe­bliche Rolle für die Iden­tität­spoli­tik weltan­schaulich-ago­naler freigeistiger Organ­i­sa­tio­nen. Typ­isch ist hier ein dichotomes Denken des binären Codes säkular/religiös in Gegen­sätzen wie Wis­senschaft vs. Reli­gion, ratio­nal vs. irra­tional, fortschrit­tlich vs. rückschrit­tlich, vernün­ftig vs. gefährlich. Stephen LeDrew, der freigeistige Organ­i­sa­tio­nen in den USA erforscht, verortet dieses Denken ideengeschichtlich in der Tra­di­tion des von ihm so beze­ich­neten „wis­senschaftlichen Athe­is­mus“. Reli­gion wird hier zunächst rein intellek­tu­al­is­tisch als rückschrit­tlich­er Erken­nt­nisweg betra­chtet. Wir ken­nen das aus der Wis­senschafts­geschichte ja noch aus dem 19. Jahrhun­dert von evo­lu­tion­is­tis­chen Vertretern wie Tylor oder Spencer.

Diese Rückschrit­tlichkeit wird von weltan­schaulich-ago­nalen freigeisti­gen Organ­i­sa­tio­nen dann auch auf die ethis­che Urteils­fähigkeit bezo­gen. Religiöse Ansicht­en sind dem­nach nicht nur falsch, son­dern auch gefährlich. Johannes Quack spricht hier von einem „epis­temic-moral entan­gle­ment“. LeDrew beschreibt für die USA, wie so argu­men­tierende Organ­i­sa­tio­nen spätestens seit 9/11 in eine mitunter sehr undif­feren­zierte Islamkri­tik und einen poli­tis­chen Kon­ser­v­a­tivis­mus ver­fall­en sind, der für die freigeistige Tra­di­tion eher untyp­isch ist. Das religiöse Gegenüber waren zuvor vor allem christliche Akteure, die häu­fig zum poli­tis­chen Estab­lish­ment gehörten. Mit dem Einzug der Islamkri­tik in die Szene ist sie gle­ich­sam für Posi­tio­nen des recht­en poli­tis­chen Spek­trums geöffnet wor­den. LeDrew spricht davon, dass sich in den USA eine „Athe­is­tis­che Rechte“ formiere. Wenn man die Pub­lika­tio­nen des soge­nan­nten „Neuen Athe­is­ten“ Sam Har­ris liest, ist dem nur zuzus­tim­men. Solche Extrem­fälle find­et man in der freigeisti­gen Szene Deutsch­lands eher sel­ten. Auch die GBS kri­tisiert aber zum Beispiel entsch­ieden eine „dog­ma­tis­che Linke“, die die Stiftung in der Öffentlichkeit bloß denun­zieren wolle, und es wer­den islamkri­tis­che Posi­tio­nen entwick­elt, für die aus dem poli­tisch recht­en Spek­trum zumin­d­est Applaus kommt – auch wenn sich die Stiftung aus­drück­lich z.B. von der AfD abgren­zt. [Anm. Red.: Man siehe auch den Beitrag Wenn die “The­olo­gie” der Religionskritiker*innen auf “kon­fes­sion­slose” Islam­bilder trifft].

Der HVD geht hier einen anderen Weg. Das hat schon ganz prak­tis­che Gründe. Der Ver­band ist vor allem in Berlin groß, wo 70% der Bevölkerung sich als säku­lar ver­ste­hen. Reli­gion hat im All­t­ag der meis­ten Men­schen kaum noch eine Rel­e­vanz. Ein Ver­band, der sich auf Reli­gion­skri­tik konzen­tri­ert, wird da eher als etwas merk­würdig emp­fun­den. So hat der HVD stattdessen ein Pro­gramm ganz prak­tis­ch­er Leben­shil­fe und Beratung ent­wor­fen. Für Großteile sein­er Prax­is, z.B. seine Hos­pize, Fam­i­lien­zen­tren oder Kitas, spielt Reli­gion­skri­tik, wenn über­haupt, eine sehr unter­ge­ord­nete Rolle. Das lässt sich auch ideengeschichtlich her­leit­en. LeDrew verortet Organ­i­sa­tio­nen wie den HVD in der Tra­di­tion des von ihm so beze­ich­neten „human­is­tis­chen Athe­is­mus“, der in marx­is­tis­ch­er Tra­di­tion ste­ht. Dem­nach wird der „religiöse Über­bau“ dort, wo er als Opi­um des Volkes wirkt, zwangsläu­fig ver­schwinden, wenn man nur die gesellschaftlichen Ver­hält­nisse ändert. Anzuset­zen ist also nicht bei Reli­gion­skri­tik, son­dern bei ein­er all­ge­meinen Gesellschaft­skri­tik. Dabei kön­nen dann pro­gres­sive religiöse Akteure sog­ar helfen und wer­den vom HVD dur­chaus auch als Koop­er­a­tionspart­ner begrif­f­en. Reli­gio­nen sind für den HVD somit keine Antag­o­nis­ten, die Gren­zen zwis­chen säkular/religiös ver­schwim­men hier vielmehr, sie spie­len ein­fach keine entschei­dende Rolle.


Danke für das Inter­view.

Das Inter­view führte Kris Wagen­seil.

Ein Kommentar

  1. Der deutsche Frei­denker Ver­band mit immer­hin 3000 Mit­gliedern wurde vergessen. Dieser bezieht sich expliz­it auf den dialek­tis­chen Mate­ri­al­is­mus und den Marx­is­mus.

    Weit­er­hin glaube ich nicht, dass die “kri­tis­che The­o­rie” eine große Akzep­tanz unter Mate­ri­al­is­ten genießt, stellt sie doch das logis­che Denken über­haupt in Frage. Mate­ri­al­is­ten gehen jedoch davon aus, dass die Wirk­lichkeit grund­sät­zlich erkennbar ist, die logis­chen Schlüsse über sie also eben­falls richtig, bzw. fol­gerichtig sind.

    Jed­er der das leugnet stellt Wis­senschaft über­haupt in Frage, denn Wis­senschaft ist mehr als Mei­n­ung, son­dern beansprucht unab­hängig von der Mei­n­ung ein­er einzel­nen Per­son wahr zu sein.

    Hier arbeit­et sich ein Mate­ri­al­ist — eben­falls in ein­er Dok­torar­beit — an den Behaup­tun­gen Adornos ab:
    https://www.farberot.de/texte/wiss/phil/PETER_DECKER_Adornos_Methodologie_krit_Sinnsuche.pdf

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