Phalluskerze als Sakrileg? – Religiöser Nationalismus und der christlich-orthodoxe Antiwesternismus im modernen Georgien

Über mich – und warum mich dieses The­ma inter­essiert

Ich heiße Luka Kitia, bin in Georgien geboren und aufgewach­sen. Als Mas­ter­stu­dent der Reli­gion­swis­senschaft an der Philipps-Uni­ver­sität Mar­burg beschäftige ich mich mit der Frage, wie Reli­gion gesellschaftliche Diskurse prägt, ins­beson­dere in meinem Heimat­land. Inter­es­sant ist für mich dabei, wie eng nationale Iden­tität und ortho­dox­es Chris­ten­tum dort miteinan­der ver­woben sind und wie recht­sex­treme Grup­pen den religiösen Nation­al­is­mus instru­men­tal­isieren, um Euroskep­tizis­mus und pro-rus­sis­che Nar­ra­tive zu ver­bre­it­en, in einem Land, von dem noch immer 20% von Rus­s­land beset­zt sind und in dem 74%1 der Bevölkerung den Beitritt Georgiens zur Europäis­chen Union unter­stützen.

Die Debat­te, die ich in mein­er Bach­e­lo­rar­beit unter­suchte, begann mit einem Vor­fall in einem Sou­venir­laden und entwick­elte sich zu einem lan­desweit­en Skan­dal der sich vor allem in sozialen Net­zw­erken wie Face­book ver­bre­it­ete.

Der Vor­fall

Im Feb­ru­ar 2024 betrat­en zwei Aktivistin­nen ein­er recht­sex­tremen Bewe­gung einen Sou­venir­laden in der Alt­stadt von Tiflis. Mit laufend­er Kam­era filmten sie ein Regal, auf dem phal­lus­för­mige Kerzen neben Kreuzen, Nation­alflaggen und tra­di­tionellen geor­gis­chen Tra­cht­en aus­gestellt waren.

Die Frauen beschuldigten die Laden­mi­tar­bei­t­erin­nen, „das Heilige verun­reinigt“ zu haben und beze­ich­neten sie mehrfach als „Pros­ti­tu­ierte”. Die Kom­bi­na­tion aus religiösen Sym­bol­en und ero­tisch kon­notierten Objek­ten beze­ich­neten sie als Sakri­leg, als Blas­phemie gegen Kirche, Nation und Kul­tur.

„Das ist euer Europa!“, rief eine der Aktivistin­nen. „Alles, was heilig ist, habt ihr beschmutzt.“ Die Szene eskalierte, Belei­di­gun­gen fie­len, schließlich gin­gen die Frauen live an ihre 10.000 Fol­low­er. Der Clip ver­bre­it­ete sich ras­ant, rechte Medi­en grif­f­en ihn auf, rechte Fernsehsendun­gen berichteten darüber und plöt­zlich war eine einzelne Kerze zum Sym­bol ein­er poli­tis­chen, religiösen und kul­turellen Debat­te gewor­den.

(Der Livestream ist inzwis­chen gelöscht, Screen­shots und Auszüge aus dem Video wur­den jedoch in mehreren Medi­en­ar­chiv­en gesichert und in mein­er Bach­e­lo­rar­beit aus­gew­ertet.)

Bildquelle: Zeitschrift: „Asaval-Dasavali” (2024, N10, S.10)2

Warum dieser Vor­fall so viel mehr ist als ein „Shit­storm“

Was aus ein­er wes­teu­ropäis­chen Per­spek­tive vielle­icht wie eine absurde Über­reak­tion wirkt, ist in Wirk­lichkeit ein präg­nantes Beispiel dafür, wie eng Reli­gion und Nation in Georgien verknüpft sind. Die bei­den Aktivistin­nen sahen die phal­lus­för­mige Kerze nicht nur als ein Sou­venir, son­dern als Bedro­hung ein­er sakral­isierten nationalen Iden­tität. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung gel­ten Sym­bole wie die geor­gis­che Flagge, die tra­di­tionelle Tra­cht oder Volksmusikin­stru­mente längst nicht mehr nur als kul­turelle Zeichen. Sie sind heilig. Ihre Nähe zu etwas „Unreinem“ wird als Angriff auf das Selb­stver­ständ­nis ein­er Nation emp­fun­den, deren Iden­tität auf christlich-ortho­dox­en Werten ruht. Der Vor­fall zeigt deut­lich, wie poli­tis­che, religiöse und kul­turelle Bedeu­tun­gen ineinan­der­greifen: Die Aktivistin­nen nutzten religiöse Empörung gezielt für poli­tis­che Botschaften, etwa gegen die europäis­che Inte­gra­tion Georgiens und ver­wan­del­ten den Kon­flikt in eine ide­ol­o­gis­che Auseinan­der­set­zung. Dabei grif­f­en sie auf eine tief kul­turell ver­ankerte Sym­bol­sprache zurück, die stark von patri­ar­chalen Stereo­typen geprägt ist. Dabei verknüpften sie zugle­ich Begriffe wie „Europäis­che Union“ oder „Euroin­te­gra­tion“, um eine nar­ra­tive Verbindung herzustellen und die Sym­bole poli­tisch zu instru­men­tal­isieren. So wurde beispiel­sweise die Phal­luskerze, und all­ge­mein die Phal­lus­form, mit Europa assozi­iert, während Kreuze und Nation­al­tra­cht­en mit Georgien gle­ichge­set­zt wur­den. Die „Verun­reini­gung“ der Kreuze durch die Phal­luskerzen wurde somit sinnbildlich als „Verun­reini­gung“ Georgiens durch die Euroin­te­gra­tion gedeutet:

Konzeptuelle Visu­al­isierung der prob­lema­tisierten und sakral­isierten Gegen­stände (Sym­bole)
sowie deren nar­ra­tive Verbindun­gen (Kitia 2025:19)3

Reli­gion als Teil der Nation – und umgekehrt

Die Geor­gisch-Ortho­doxe Kirche ist eine der ältesten christlichen Kirchen der Welt und spielt seit dem 4. Jahrhun­dert eine zen­trale Rolle in der Geschichte des Lan­des. Während der sow­jetis­chen Herrschaft war sie zunächst ein Sym­bol des Wider­stands, da sie anfangs von der aggres­siv-athe­is­tis­chen Poli­tik der Kom­mu­nis­tis­chen Partei ver­fol­gt wurde. Später jedoch wurde sie selb­st von sow­jetis­chen Geheim­di­en­sta­gen­ten unter­wan­dert. Nach der Unab­hängigkeit­serk­lärung Georgiens entwick­elte sie sich zu ein­er moralis­chen Autorität und zu einem zen­tralen Träger nationaler Iden­tität.

Heute gilt in der öffentlichen Wahrnehmung häu­fig: Wirk­lich geor­gisch ist nur, wer ortho­dox ist.4 Diese enge Verbindung prägt nicht nur religiöse Feiertage und Rit­uale, son­dern auch poli­tis­che Debat­ten, von Fra­gen der Geschlechterg­erechtigkeit, Mei­n­ungs­frei­heit und den Recht­en sex­ueller Min­der­heit­en bis hin zur Außen­poli­tik.

Die Geor­gisch-Ortho­doxe Kirche pflegt enge Beziehun­gen zur Rus­sisch-Ortho­dox­en Kirche. Viele Geistliche ver­bre­it­en daher Kreml-Pro­pa­gan­da, die die ortho­doxe Reli­gion poli­tisch instru­men­tal­isiert und häu­fig zur Recht­fer­ti­gung von Gewalt und Kriegsver­brechen miss­braucht wird.

Ver­nakuläre Ortho­dox­ie – gelebter Glaube jen­seits der Dog­men

Um diese Phänomene zu ver­ste­hen, hil­ft der reli­gion­swis­senschaftliche Begriff „ver­nac­u­lar reli­gion“ – über­set­zt etwa: gelebte All­t­agsre­li­gion. Der Begriff wurde vom amerikanis­chen Reli­gion­swis­senschaftler Leonard Prim­i­ano5 (1957–2021) geprägt und beschreibt religiöse Prak­tiken und Vorstel­lun­gen, die nicht nur von offiziellen Kirchen­lehren bes­timmt sind, son­dern aus dem All­t­ag der Men­schen selb­st entste­hen. Prim­i­ano ver­ste­ht Reli­gion als etwas Dynamis­ches, das ständig im Aus­tausch mit den Erfahrun­gen und der Lebenswelt der Gläu­bi­gen ste­ht. Men­schen inter­pretieren religiöse Lehren auf ihre eigene Weise, verbinden sie mit All­t­agstra­di­tio­nen, Bräuchen oder per­sön­lichen Vorstel­lun­gen und erschaf­fen so eine Reli­gion, die für sie Sinn ergibt. Dabei ste­hen All­t­agsre­li­gion und insti­tu­tionelle Reli­gion nicht im Wider­spruch zueinan­der. Im Gegen­teil: Sie bee­in­flussen sich gegen­seit­ig. Die Kirche prägt durch ihre Dog­men und Rit­uale, was als „richtig“ oder „heilig“ gilt, aber gle­ichzeit­ig übernehmen kirch­liche Insti­tu­tio­nen auch viele Prak­tiken, die ursprünglich aus der gelebten All­t­agsre­li­gion ent­standen sind.

In Georgien zeigt sich das beson­ders deut­lich: Nicht nur die Kirche bes­timmt, was als heilig gilt, auch die Bevölkerung selb­st schreibt Objek­ten, Bräuchen und Sym­bol­en eine sakrale Bedeu­tung zu. Diese Bedeu­tun­gen kön­nen sich im Laufe der Zeit wan­deln, poli­tisiert oder sog­ar kom­merzial­isiert wer­den. Phänomene, die in der gelebten Reli­gion entste­hen, wer­den häu­fig von religiösen Insti­tu­tio­nen über­nom­men. So hat beispiel­sweise die Geor­gisch-Ortho­doxe Kirche, ohne jegliche the­ol­o­gis­che Grund­lage, die Sakral­isierung nationaler Tra­cht­en über­nom­men und damit zur Her­aus­bil­dung eines religiösen Nation­al­is­mus beige­tra­gen.

Die Phal­lus­form war nicht immer unheilig

In vie­len alten Kul­turen, auch in Georgien, stand die Phal­lus­form ursprünglich für Frucht­barkeit, Leben und schöpferische Kraft. Archäol­o­gis­che Funde aus der Antike bele­gen, dass der Phal­lus im vorchristlichen Georgien ein pos­i­tives, oft sog­ar schützen­des Sym­bol war.6 Selb­st auf eini­gen früh­mit­te­lal­ter­lichen geor­gis­chen Kirchen find­en sich phal­lis­che Darstel­lun­gen, die bis heute in der All­t­agsre­li­gion nach­wirken. In manchen Regio­nen verehren kinder­lose Fam­i­lien solche Darstel­lun­gen noch immer in der Hoff­nung, dadurch Kinder zu bekom­men, ein still weit­er­leben­des Rit­u­al, über das jedoch nur hal­böf­fentlich oder gar nicht gesprochen wird.7 (vgl. Kitia 2025:31)

Die Verän­derung der Bedeu­tung der Phal­lus­form hängt eng mit patri­ar­chalen Nor­men zusam­men, die im Zuge der Chris­tian­isierung immer stärk­er wur­den. Während der Phal­lus in alt­ge­or­gis­chen Frucht­barkeit­skul­ten als Sym­bol schöpferisch­er Energie galt, also als Zeichen von Leben, Frucht­barkeit und zyk­lis­ch­er Natur, wurde er im patri­ar­chal geprägten Chris­ten­tum zunehmend moralisch bew­ertet und kon­trol­liert.

Der Kör­p­er, ins­beson­dere der weib­liche, wurde zum Träger von Rein­heitsvorstel­lun­gen, während Sex­u­al­ität nur noch im Rah­men kirch­lich legit­imiert­er Ehe akzep­tiert war. Dadurch ent­stand eine strik­te Tren­nung zwis­chen „rein­er“ (geistlich­er) und „unrein­er“ (kör­per­lich­er) Sphäre, die das christlich-ortho­doxe Denken bis heute prägt. In diesem Kon­text wurde der Phal­lus nicht mehr als Sym­bol von Leben­skraft, son­dern als Zeichen des Trieb­haften und des moralisch Ver­w­er­flichen inter­pretiert. Seine Darstel­lung galt als Bedro­hung der gesellschaftlichen Ord­nung, die auf männlich­er Autorität und Kon­trolle über weib­liche Kör­p­er und Sex­u­al­ität beruhte.

Die Aktivistin­nen ver­ban­den die Phal­luskerzen bewusst mit der Europäis­chen Union, die für sie ein Sym­bol der Mod­erne, der Gle­ich­berech­ti­gung und des Fem­i­nis­mus ist und damit für eine Welt, in der Frauen über ihren Kör­p­er selb­st bes­tim­men und tra­di­tionelle patri­ar­chale Nor­men in Frage gestellt wer­den.

Religiös­er Nation­al­is­mus als moralis­ches Regime

Viele Men­schen in Georgien empfind­en sich als geor­gisch, weil sie ortho­dox sind. Reli­gion ist also nicht nur eine pri­vate Angele­gen­heit, son­dern ein öffentlich­er moralis­ch­er Rah­men, der bes­timmt, was als richtig oder heilig gilt. Man kann sagen: Die Ortho­dox­ie wirkt heute wie eine moralis­che Instanz, die nicht nur über religiöse Fra­gen entschei­det, son­dern auch über gesellschaftliche Werte, etwa über The­men wie Fam­i­lie, Geschlechter­rollen oder poli­tis­che Ein­stel­lun­gen. Dadurch entste­ht eine Ord­nung, in der religiöse und nationale Vorstel­lun­gen ineinan­der überge­hen.

Die Vorstel­lung, Georgien sei ein „heiliges Land“, spielt dabei eine zen­trale Rolle. In vie­len Predigten von Geistlichen und öffentlichen Reden von Politiker*innen wird betont, dass die geor­gis­che Nation von Gott auser­wählt sei, ihre Sprache und Kul­tur zu bewahren. So schrieb beispiel­sweise der erste Präsi­dent Georgiens und Anführer der religiös-nation­al­is­tis­chen Bewe­gung in seinem Werk „Die geistliche Mis­sion Georgiens“8 darüber und griff dabei auf mit­te­lal­ter­liche Quellen zurück. Diese Sakral­isierung der Nation führt dazu, dass poli­tis­che The­men moralisch aufge­laden wer­den. Wer die Gle­ich­berech­ti­gung der Geschlechter oder die europäis­che Inte­gra­tion befür­wortet, gilt schnell als jemand, der die „reinen“ Werte der Nation gefährdet.

Ger­ade deshalb wurde die Phal­luskerze in diesem Fall zu einem Sakri­leg. Sie passte nicht in dieses moralis­che Welt­bild. Für die Aktivistin­nen wurde sie zum Zeichen ein­er „frem­den“, west­lich-lib­eralen Welt, die sie als Bedro­hung emp­fan­den. Sie verknüpften die Phal­lus­form bewusst mit dem West­en ins­ge­samt, um gezielt anti­west­liche Stim­mung in der Gesellschaft zu schüren. Der religiöse Nation­al­is­mus in Georgien funk­tion­iert also nicht nur durch Glaubens­fra­gen, son­dern durch Sym­bol­poli­tik: durch die Ein­teilung der Welt in rein und unrein, heilig und pro­fan, „wir“ und „die Anderen“.

So entste­ht eine Art moralis­ches Regime, in der Reli­gion, Poli­tik und Kul­tur untrennbar miteinan­der ver­woben sind. Und genau in diesem Span­nungs­feld bewe­gen sich die Diskus­sio­nen über nationale Iden­tität, Geschlecht und Mod­erne, die ich in mein­er Bach­e­lo­rar­beit unter­sucht habe.

Denkmal des heili­gen Georg am Stadtein­gang von Mes­tia (Stadt in der Bergre­gion Georgiens). Als Namensge­ber und Schutz­pa­tron des Lan­des, wird der heilige Georg sym­bol­isch mit Georgien selb­st gle­ichge­set­zt, einem Land, dessen „geistliche Mis­sion” darin gese­hen wird, das Böse zu besiegen. (Bild: Luka Kitia)

HINWEIS: Das Video des oben beschriebe­nen Vor­falls sowie das voll­ständi­ge Tran­skript auf Deutsch sind auf Anfrage erhältlich. Wenn Sie Ein­blick erhal­ten möcht­en, schreiben Sie mir bitte direkt an kitia@outlook.de

  1. Ver­füg­bar unter: Euneigh­bourseast ↩︎
  2. Ver­füg­bar unter: Nation­al Library of Geor­gia, ↩︎
  3. Kitia, L. (2025): Phal­luskerze als Sakri­leg? Zum sym­bi­o­tis­chen Ver­hält­nis zwis­chen Nation­al­is­mus und ortho­dox­er Reli­gion in Georgien. München: GRIN Ver­lag. Ver­füg­bar unter: https://www.grin.com/document/1604109 ↩︎
  4. Zvi­adadze, S. (2018): The unbear­able light­ness of being Mus­lim and Geor­gian: Reli­gious trans­for­ma­tion and ques­tions of iden­ti­ty among Adjara’s Mus­lim Geor­gians. Region – Region­al Stud­ies of Rus­sia, East­ern Europe and Cen­tral Asia, 7(1), S. 23–42. ↩︎
  5. Prim­i­ano, L. N. (2014): Man­i­fes­ta­tions of the reli­gious ver­nac­u­lar. In M. Bow­man & U. Valk (Eds.), Ver­nac­u­lar reli­gion in every­day life: Expres­sions of belief, Equinox Pub­lish­ing, S. 382–395. ↩︎
  6. Nari­man­ishvili, G., Shan­shashvili, N. (2022). The Mega­lith­ic Mon­u­ments of Geor­gia, (2nd expand­ed ed.). Tbil­isi. Geor­gian Nation­al Muse­um, S. 47. ↩︎
  7. Ambebi.ge (2014): “ფალოსის კულტი”, რომელიც ხაშურში ეკლესიაზეა განთავსებული /Der „Phal­luskult“, der an ein­er Kirche in Chaschuri ange­bracht ist. Ver­füg­bar unter:
    https://www.ambebi.ge/article/119218-palosis-kulti-romelic-xashurshi-eklesiazea-gantavsebuli/ ( ↩︎
  8. Gam­sakhur­dia, Z. (1991): The Spir­i­tu­al Mis­sion Of Geor­gia. Tbil­isi: Ganatle­ba. Ver­füg­bar unter: https://dspace.nplg.gov.ge/bitstream/1234/483533/1/The_Spiritual_Mission_Of_Georgia_1991.pdf ↩︎