Religiöses Kopieren in Schweden

Für viele von uns, die täglich mehrere Stun­den am Com­put­er ver­brin­gen, sind die Tas­tenkom­bi­na­tio­nen STRG+C und STRG+V unverzicht­bare Werkzeuge des dig­i­tal­en All­t­ags. Doch in Schwe­den wurde diese alltägliche Prax­is von ein­er Gruppe zu etwas weit Größerem erhoben: ein­er Form von religiös­er Verehrung. Hier wird das Rit­u­al des Kopierens und Teilens von Dat­en nicht nur als nüt­zlich, son­dern als heilig ange­se­hen. Seit 2012 wird die Mis­sion­ary Church of Kopimism (MCK) offiziell als Reli­gion­s­ge­mein­schaft anerkan­nt. Gegrün­det wurde sie bere­its 2010 von Isak Thomas Ger­son und Gus­tav Nipe in Upp­sala. Der Name Kopimism set­zt sich aus den englis­chen Wörtern copy (kopieren) und me (mich) zusam­men (Nils­son and Enkvist S. 143). Im Zen­trum ihres Glaubens ste­ht die Überzeu­gung, dass das Kopieren und Teilen dig­i­taler Dat­en heilige Hand­lun­gen sind und Wis­sen für alle zugänglich sein soll (Kopimist­sam­fun­det – Kopis­tenge­mein­schaft). Da die MCK nun vom Staat anerkan­nt ist, genießt sie bes­timmte Priv­i­legien, die mit dem Sta­tus ein­er Reli­gion­s­ge­mein­schaft ver­bun­den sind.

Doch wie kon­nte eine Gemein­schaft, deren Grund­sätze so son­der­bar erscheinen, den offiziellen Sta­tus ein­er Reli­gion erlan­gen? Hier lohnt sich ein genauer Blick auf den Anerken­nung­sprozess. Die schwedis­chen Religionswissenschaftler*innen Vic­to­ria Enkvist und Per Erik Nils­son haben in ihrem Artikel Tech­niques of Reli­gion-Mak­ing in Swe­den: The Case of the Mis­sion­ary Church of Kopimism unter­sucht, wie die Reli­gion des Kopierens erschaf­fen wurde. Um dies zu ver­ste­hen, haben sie das ana­lytis­che Tool des ‚Reli­gion-Mak­ing‘ genutzt.

Reli­gion-Mak­ing ver­ste­hen

Der Begriff ‚Reli­gion­ss­chaf­fung‘, im Englis­chen als Reli­gion-Mak­ing beze­ich­net, basiert auf einem the­o­retis­chen Werkzeug, das maßge­blich von den bei­den Reli­gion­swis­senschaftlern Markus Dressler und Arvind-Pal Singh Mandair entwick­elt wurde. Die Anwen­dung ermöglicht Ein­blicke in die Mech­a­nis­men, durch die Religion(en) inner­halb eines gesellschaftlichen Diskurs­es konzep­tu­al­isiert und insti­tu­tion­al­isiert wer­den (Mandair und Dressler S. 21). Dabei wird unter­sucht, wie Akteure den Begriff Reli­gion inter­pretieren und welche Machtver­schiebun­gen daraus resul­tieren.

Mandair und Dressler iden­ti­fizieren drei Ebe­nen des Reli­gion-Mak­ing, die sich wech­sel­seit­ig bee­in­flussen: von oben, von unten und von außen. Von ‚oben‘ beze­ich­net vor allem die Rolle der Regierungspoli­tik, die fes­tlegt, was offiziell als Reli­gion anerkan­nt wird. Reli­gion­ss­chaf­fung von ‚unten‘ wird durch die indi­vidu­elle Reli­gion­s­gruppe selb­st betrieben. Von ‚außen‘ bezieht sich zum Beispiel auf wis­senschaftliche oder medi­ale Diskurse, die die anderen bei­den Ebe­nen legit­imieren kön­nen (Mandair und Dressler S. 21–23; Nils­son und Enkvist S. 151).

Die Anerken­nung der MCK in Schwe­den dient als inter­es­santes Beispiel, um die drei Ebe­nen genauer zu ver­ste­hen. Dieses ana­lytis­che Konzept ist beson­ders nüt­zlich, um das Par­a­dig­ma der Wel­tre­li­gio­nen, das häu­fig auch im Reli­gion­srecht Anwen­dung find­et, zu hin­ter­fra­gen und die vorherrschen­den Struk­turen sicht­bar zu machen (Årsheim S. 23). Reli­gion-Mak­ing dient hier also als ein effek­tives Werkzeug, um die Mech­a­nis­men hin­ter der Anerken­nung und Verän­derung ein­er Reli­gion­s­ge­mein­schaft zu ver­ste­hen. Wie andere Analy­sen find­et dies nicht nur sin­nvolle Anwen­dung in der Betra­ch­tung von neuen religiösen Bewe­gun­gen.[1]

Kopimism: Reli­gion-Mak­ing von oben

Um als Reli­gion­s­ge­mein­schaft in Schwe­den anerkan­nt zu wer­den, müssen grund­sät­zlich vier Para­me­ter erfüllt wer­den: Die Gemein­schaften müssen nach­weisen, dass sie (a) religiöse Aktiv­itäten wie Beten oder Med­i­ta­tion ausüben, (b) eine fest­gelegte Satzung, sowie © einen Ver­wal­tungsrat haben. Außer­dem müssen sich (d) mit einem unver­wech­sel­baren Namen anmelden, der moralisch vertret­bar ist und die öffentliche Ord­nung nicht stört (Kam­markol­legi­et – Zen­tralamt für Rechts‑, Ver­mö­gens- und Ver­wal­tungsregelung).

Der Staat gibt durch diese Check­liste eine implizite Reli­gions­de­f­i­n­i­tion vor: hier find­et also ‚Reli­gion-Mak­ing‘ von oben statt. Die staatlichen Vor­gaben ori­en­tieren sich an der Aufteilung von pri­vat und öffentlich und definiert Reli­gion als etwas Optionales im Pri­vat­en (Nils­son und Enkvist S. 148). Diese Grund­sätze sind häu­fig gut mit Strö­mungen aus dem Chris­ten­tum zu vere­inen, während dies bei anderen Reli­gion­sstruk­turen, die einen größeren Platz im öffentlichen Raum ein­nehmen, nicht gegeben ist. Dadurch sind Reli­gion­s­ge­mein­schaften, die in ihrer Organ­i­sa­tion den großen christlichen Kirchen ähneln, deut­lich bess­er in der Lage, diesen Kri­te­rien gerecht zu wer­den als andere Grup­pen.

Reli­gion-Mak­ing von unten

Entsprechend dieser staatlichen Vor­gaben haben die Grün­der der MCK die Struk­turen ihrer Reli­gion an ein­er bere­its etablierten großen Kirche ori­en­tiert und sich eben­falls als Kirche mit ein­deutiger Dok­trin und Ver­fas­sung aufgestellt. Während dieses Prozess­es haben sich die inneren Struk­turen der Gemein­schaft allerd­ings grundle­gend verän­dert. Diese Verän­derung von ‚unten‘ wird als „reli­gion-mak­ing from below“ beze­ich­net. Vor dem Anerken­nung­sprozess war die Gemein­schaft von ein­er flachen Organ­i­sa­tion geprägt: Aus­tausch und Prax­is fand vor allem in der dig­i­tal­en Welt in Cha­träu­men, Blogs und Foren statt (Nils­son und Enkvist S. 149). Nach der Anerken­nung wur­den klare hier­ar­chis­che Struk­turen einge­führt, darunter Mis­sion­sleitun­gen und „Oper­a­tors“ („Ops“), die als eine Art Priester fungieren. Darüber hin­aus wur­den organ­isierte Zusam­menkün­fte etabliert, in denen das soge­nan­nte „kopy­act­ing“ prak­tiziert wird. Diese Zusam­menkün­fte begin­nen mit Rit­ualen, die den (analo­gen oder dig­i­tal­en) Ort durch die Nutzung von Sym­bol­en wie „Ctrl‑C“ und „Ctrl‑V“ heiligsprechen (Nils­son und Enkvist S. 148–50).

Reli­gion-Mak­ing von außen

Nils­son und Enkvist argu­men­tieren, dass die Medi­en einen bedeu­ten­den Ein­fluss auf die Anerken­nung der Kirche als Reli­gion hat­ten: Auf­grund von Vor­wür­fen, die Grün­der wür­den Reli­gion für ihre eige­nen Zwecke miss­brauchen oder verspot­ten, sahen sich Ger­son und Nipe gezwun­gen, überzeu­gende Argu­men­ta­tion­sstruk­turen zu entwick­eln, um diesen Anschuldigun­gen ent­ge­gen­zutreten. Dabei zogen sie oft Par­al­le­len zu den abra­hami­tis­chen Reli­gio­nen, um die Legit­im­ität ihrer Gemein­schaft zu unter­stre­ichen. So erläutert Ger­son gegenüber der New York Times, dass Gospelgeschicht­en des Chris­ten­tums eben­falls Beispiele von Samm­lun­gen und Kopi­en aus unter­schiedlichen Quellen sind (Nils­son und Enkvist S. 150–51).

Faz­it: Der Mythos der staatlichen Neu­tral­ität

Nils­son und Enkvist verdeut­lichen in ihrer Analyse, dass die Vorstel­lung von staatlich­er Neu­tral­ität in Bezug auf Religion(en) frag­würdig ist: Durch ver­schiedene Mech­a­nis­men des Reli­gion-Mak­ing definiert der Staat Reli­gion impliz­it anhand von vorgegebe­nen Kri­te­rien, die oft christlichen Struk­turen entsprechen. Infolgedessen kön­nen Reli­gion­s­ge­mein­schaften durch den Staat verän­dert und Reli­gio­nen durch (bürokratis­che) Regierungsin­stru­mente geschaf­fen wer­den. Fol­glich kann eine Reli­gion­s­ge­mein­schaft des Kopierens, die sich an der Vor­lage ein­er bere­its etablierten christlichen Kirche ori­en­tiert, als Reli­gion anerkan­nt wer­den. Let­z­tendlich ist die Anerken­nung der Mis­sion­ary Church of Kopimism also ein bemerkenswertes Beispiel, anhand dessen unter­schiedliche Umset­zun­gen von Säku­lar­ität in Europa beobachtet und hin­ter­fragt wer­den kön­nen.

Julia Opper­mann, M.A.

Bib­li­ografie

Årsheim, H. (2018). Mak­ing reli­gion and human rights at the Unit­ed Nations. Reli­gion and soci­ety: Vol­ume 67. De Gruyter.

Kam­markol­legi­et. (13/10/23). Reg­is­tra­tion of Reli­gious Com­mu­ni­ties. https://www.kammarkollegiet.se/engelska/start/all-services/religious-communities-and-marriage-ceremonies/registration-of-religious-communities. Zulet­zt zuge­grif­f­en am 05/11/24.

Kopimist­sam­fun­det. (n.d.). Wel­come to the Mis­sion­ary Church of Kopimism. Zugriff am 10. Novem­ber 2024, ver­füg­bar unter https://kopimistsamfundet.se/english/.

Mandair, A.‑P. S. & Dressler, M. (2011). Intro­duc­tion: Moder­ni­ty, Reli­gion-Mak­ing, and the Post­sec­u­lar. In M. Dressler & A.-P. S. Mandair (Hrsg.), Sec­u­lar­ism and Reli­gion-Mak­ing (S. 3–36). Oxford Uni­ver­si­ty Press.

Nils­son, Per-Erik, and Vic­to­ria Enkvist. “Tech­niques of Reli­gion-Mak­ing in Swe­den: The Case of the Mis­sion­ary Church of Kopimism.” Crit­i­cal Research on Reli­gion, 04(02), 2016, 141–55.


[1] Die Wis­senschaft­lerin Trude Fon­neland verdeut­licht beispiel­sweise, wie die native Reli­gion rund um die Kul­tur der Sami durch eine Dis­ney-Film­pro­duk­tion „erschaf­fen“ und verän­dert wird: Fon­neland, T. (2020). Reli­gion-Mak­ing in the Dis­ney Fea­ture Film, Frozen II: Indig­i­neous Reli­gion and Dynam­ics of Agency. reli­gions, 11(09), Artikel 430, S. 1–14. doi:10.3390/rel11090430