Säfte und Kräfte — Ansätze zu einer Religionsgeschichte der Körperflüssigkeiten

Nicht nur Blut ist ein ganz beson­der­er Saft. REMID inter­viewte deswe­gen Ger­rit Lange, Studieren­der der Reli­gion­swis­senschaft in Mar­burg, zu sein­er Mas­ter-Arbeit, welche Ansätze zu ein­er Reli­gion­s­geschichte der Kör­per­flüs­sigkeit­en entwick­elt — mit beson­derem Blick auf altindis­che Mythen.

REMID: “Kör­per­flüs­sigkeit­en als Meta­pher in altindis­chen Mythen und anderen Erzäh­lun­gen” lautet der Unter­ti­tel Ihrer Mas­ter­ar­beit. Da schließen sich einige Fra­gen an. Welche altindis­chen Mythen haben Sie sich angeschaut?

Etliche. Zuerst behan­dle ich die Geschichte von Pṛthvī, der Erde, die als Kuh erscheint und jedem Wesen ihre jew­eilige Nahrung als “Milch” schenkt — den Göt­tern den Nek­tar der Unsterblichkeit, den ver­schiede­nen Arten von “Dämo­nen“ Alko­hol oder Men­schen­fleisch, den Schlangen ihr Gift, den Men­schen die Milch und anderes, den Gras­fressern Gras und so fort. Hier wird eine Meta­pher wirk­lich astrein durchex­erziert, denn jede Wesens­form muss einen Vertreter als “Kalb”, vat­sa, zur Ver­fü­gung stellen, um in der Kuh die müt­ter­liche Liebe und Zärtlichkeit, vat­sala, zu erre­gen.

Aber hier wird auch schon deut­lich, was mir beim Schreiben immer bewusster wurde: Dass auch ein noch so weit­er und ambi­tion­iert­er Meta­phern­be­griff, für den die Meta­pher nicht ein­fach einen Begriff durch einen anderen erset­zt, den überquel­lend vie­len Aspek­ten der meis­ten Mythen über­haupt nicht gerecht wer­den kann. Dass die Erde als Kuh und dadurch als Mut­ter auftritt, dass „die“ (ide­al­isierte) Mut­ter dadurch zur Kuh und alle Wesen zu „Kindern“ der Erde erk­lärt wer­den, geht über metapho­rische Beziehun­gen zwis­chen Begrif­f­en weit hin­aus – eher wächst da ein assozia­tiv­er Knoten zusam­men, der immer mehr Motive, immer mehr auch emo­tionalen Gehalt in ein­er Geschichte zusam­men­binden kann, die erzählt, wie Aspek­te der ganzen Welt so gewor­den sind, wie sie sind.

Das macht für mich Mytholo­gie aus: dass die Erzäh­len­den (Tanzen­den, Mal­en­den, Fil­menden, Gestikulieren­den etc.) und die Hören­den (Sehen­den, Schmeck­enden, Riechen­den etc.) sich selb­st nicht nur durch Über­tra­gung, son­dern durch direk­te, physis­che Bezüge in der Geschichte wiederfind­en.

Religiöses Poster von einer Webseite aus dem Umfeld der Hare-Krishna-Bewegung (ISKCON): Kamadhenu - the wish-fulfilling Cow. Um 1912 kursierten vergleichbare Poster ("Die Kuh mit 84 Gottheiten") gehäuft, verbreitet von sogenannten Agorakshanasabh (Vereinigungen zum Schutz der Kühe) und Wanderasketen gerichtet gegen den Rindfleischverzehr durch Muslime während der britischen Herrschaft.
Religiös­es Poster von ein­er Web­seite aus dem Umfeld der Hare-Krish­na-Bewe­gung (ISKCON): Kamad­henu — the wish-ful­fill­ing Cow. Um 1912 kur­sierten ver­gle­ich­bare Poster (“Die Kuh mit 84 Got­theit­en”) gehäuft, ver­bre­it­et von soge­nan­nten Ago­rak­shanasabh (Vere­ini­gun­gen zum Schutz der Kühe) und Wan­deras­keten gerichtet gegen den Rind­fleis­chverzehr durch Mus­lime während der britis­chen Herrschaft.

Andere Mythen über Śiva, der seinen Samen oder auch Schweiß und Trä­nen vergießt, über die blutschlür­fende Kālī oder über eine Dämonin, die Kṛṣṇa ihre vergiftete Milch zu trinken gibt und dabei von ihm aus­ge­saugt wird, bis sie stirbt, sind noch viel­seit­iger. Zu behaupten, hier fließe eine Flüs­sigkeit „bloß“ als Meta­pher für irgen­dein meta­ph­ysis­ches Prinzip, für gesellschaftliche Ver­hält­nisse oder für psy­chis­che Bedro­hun­gen, würde die Geschicht­en radikal verkürzen. Noch radikaler, als es meine Über­set­zun­gen aus­gewählter Ver­sio­nen aus den meist sehr vie­len Vari­a­tio­nen ein­er Geschichte ohne­hin tun, die es in den epis­chen und purāṇis­chen Tex­ten gibt und dort natür­lich über­all in Vor- und Nachgeschicht­en einge­bet­tet sind. Die üppige Veg­e­ta­tion der Erzäh­lun­gen muss in jedem Fall stark beschnit­ten und zurecht­ges­tutzt wer­den, um über­haupt ein Motiv, eine Geschichte exponieren zu kön­nen.

Und dann habe ich auch noch „andere Erzäh­lun­gen“ aus ganz anderen Kul­turen in meine eigene Erzäh­lung – denn auch Inter­pre­ta­tion, Ver­gle­ich und Analyse von Mythen kön­nen nicht umhin, die Geschicht­en neu zu erzählen – einge­fügt. Durch Kon­traste und Ähn­lichkeit­en der Bedeu­tun­gen, die Kör­per­flüs­sigkeit­en annehmen kön­nen, kon­nte ich meine Auswahl und Inter­pre­ta­tion von Mythen bess­er aus­richt­en und etwas ord­nen.

Mys­tis­ch­er Kel­ter (tor­cu­lar mys­ticum), ver­mut­lich von Franz Xaver Merz (kath.), 18. Jh., Rokoko, Sal­va­tor-Kirche, Bogen­berg (Nieder­bay­ern). Chris­tus mit dem Kreuz befind­et sich in dieser Bild­tra­di­tion (beste­hend seit dem 12. Jh.) in ein­er Wein­presse, welche statt Wein das Blut Christi führt und — in diesem Bild — auf die armen See­len im Fege­feuer träufeln lässt (vgl. Beiträge zur Geschichte des Bis­tums Regens­burg, Band 28, S. 138).
Bild von Wolf­gang Sauber

REMID: Und wie ist der Meta­phern­be­griff genau zu ver­ste­hen? Schließlich erwartet man bei “Mythen” nicht unbe­d­ingt eine lediglich “metapho­rische” Bezug­nahme. Vielle­icht lässt sich das mit weni­gen Beispie­len erläutern?

Damit haben Sie bere­its einige wesentliche Fra­gen ange­sprochen, die mir beim Schreiben der Arbeit immer wieder in den Sinn kamen und deren Blick­feld sich um einiges ver­schoben hat. Meinen Meta­phern­be­griff habe ich im Vor­feld sehr “geweit­et”, im Sinne der “Metaphors we live by” von Johnsen und Lakoff, ohne die sich wed­er all­t­agssprach­liche noch poet­is­che noch wis­senschaftliche Sätze über­haupt “bilden” ließen (Beispiele dafür “set­ze” ich ger­ade in Gänse­füßchen). Auch von Hans Blu­men­berg, der die Philoso­phiegeschichte als Meta­pherngeschichte “begreift” und damit auch sein­er Arbeit am Mythos zuar­beit­et, ließ ich mich leit­en. Dadurch war es mir begrif­flich möglich, Mythos und Meta­pher als Denkweisen zu ver­ste­hen, die ähn­lich dabei vorge­hen, die Ein­drücke aus der Welt, Denkprozesse, die abstrak­te eigene Sit­u­a­tion, das Gefühlsleben und anderes in Worte und Bilder zu “fassen”. Sie sind also eher als ratio­nale Impulse denn als irra­tionale Lügen oder Falschheit­en zu “sehen”.

Die vie­len Gänse­füßchen im let­zten Absatz zeigen aber bere­its, dass ein solch­es ständi­ges Nach­denken über das Denken, das eine Metaphorolo­gie mit sich bringt, stark irri­tieren kann und dem Schreiben wie auch dem Lesen über ein anderes The­ma eine unerträgliche Ablenkung bedeuten. Darum habe ich nach dem ersten Teil mein­er Arbeit zu den Begrif­f­en Meta­pher, Mythos und Leib­lichkeit schnell wieder darauf verzichtet, all diese Imp­lika­tio­nen und Möglichkeit­en der Begriffe zu jedem The­ma auszubre­it­en. Worauf es mir ankommt, ist, dass Mythen und Meta­phern „vieldeutig“ sind, wie es Blu­men­berg aus­drückt. Sie machen, das ist meine These, nicht nur aller­lei Unsicht­bares sicht­bar und aller­lei Unsag­bares sag­bar (oft, indem Greif­bares, Physis­ches für die ungreif­baren, mehr oder weniger kör­per­losen Gedanken und Gefüh­le ste­ht, die dadurch kom­mu­niziert, begrif­f­en und „begrif­f­en“ wer­den kön­nen), son­dern machen auch den Kör­p­er zum The­ma, die leib­lichen Erfahrun­gen, die Schmerzen, Ekel­mo­mente, Lüste und andere „Käfer in der Schachtel“. Ander­er­seits wären ohne Vorstel­lun­gen von Kör­per­losigkeit, von Nicht-Physis, die Begriffe des Kör­pers, des Konkreten, der Materie gar nicht denkbar und wären schon gar nicht inter­es­sant genug, eigene turns in den Geis­teswis­senschaften anzure­gen. Let­ztere trägt durch die Ety­molo­gie von mater, „Mut­ter“, zumin­d­est die Möglichkeit in sich, metapho­risch wie mythisch ihren Sinn zu erweit­ern, ger­adezu zu tran­szendieren.

Darin wird natür­lich auch einiges an sex­is­tis­chen Zuschrei­bun­gen und Zumu­tun­gen trans­portiert. Milch, Men­stru­a­tions­blut, Sper­ma und der­gle­ichen scheinen mir über­haupt die stärk­sten Träger­stoffe der so ekel- wie lustvollen Äng­ste und Wün­sche zu sein, aus denen Geschlech­teri­den­titäten beste­hen und sich speisen.

REMID: Sie beziehen sich auch auf Kunst­werke europäis­ch­er Tra­di­tion mit Bezug zum Chris­ten­tum — sowie auf mod­erne Beispiele aus unter­schiedlichen Kon­tex­ten. Geht es Ihnen um eine ver­gle­ichende Reli­gion­s­geschichte der Kör­per­flüs­sigkeit­en?

Ja, wenn auch um eine äußerst lück­en­hafte. Im zweit­en von vier Teilen mein­er Arbeit habe ich der Milch geben­den Mut­ter­erdenkuh Pṛthvī zum Kon­trast Jesus, den Erlö­sung, Wein und Blut spenden­den Gottmen­schen, und die Blut saugen­den Erinyen aus der Orestie des Ais­chy­los beige­sellt. Das ist so pro­vokant wie ahis­torisch. Ich gehe nicht von gemein­samen his­torischen oder sprach­lichen Ursprün­gen, von Arche­typen oder von ein­er Dif­fu­sion ihrer nicht sehr ähn­lichen Geschicht­en aus. Und doch hat, gibt oder stiehlt jedes dieser Wesen eine Flüs­sigkeit, in der noch so viel mehr mit rin­nt, strömt oder tröpfelt: Die Liebe der Kuh, der Ver­stand und die psy­chis­che Gesund­heit des Orestes, die aufopfer­ungsvolle Liebe Gottes. Das sind welt­be­we­gende Mächte wie das Poten­tial, die ganze Welt zu ernähren oder gar zu erlösen, weltweit eine Kirche zu for­men, die ihre Mit­glieder durch den metapho­risch oder durch „Transsub­stan­ti­a­tion“ in Jesu Blut ver­wan­del­ten Wein aneinan­der bindet. Oder auch das Chaos des Blutvergießens inner­halb ein­er Fam­i­lie, dessen rächende, ewig weit­er wütende Macht sich in den Erinyen man­i­festiert, die Gift triefen, Blut saugen und älter erscheinen als die meis­ten Got­theit­en der griechis­chen Mytholo­gie.

Rot­fig­uriger, glock­en­för­miger Krater aus der griechis­chen Stadt Paes­tum in Südi­tal­ien, 330 v.u.Z. Dargestellt ist Orest in Del­phi, flankiert von Athena und Pylades, umgeben von den Erinyen und den Pries­terin­nen des Orakels, vielle­icht inklu­sive Pythia hin­ter dem dreibeini­gen Kessel. Auf­be­wahrt seit 1753 im Britis­chen Muse­um in Lon­don, GR 1917.12–10.1.
Quelle: Wiki­me­dia

REMID: Eine beson­dere Rolle in Ihrer Arbeit spielt das Blut der Men­stru­a­tion. Wie sehr lassen sich Unter­schiede in der Art der mythis­chen The­ma­tisierung divers­er Kör­per­flüs­sigkeit­en aus­machen?

Mal mehr, mal weniger. Beson­ders Trä­nen sind sehr vari­abel hin­sichtlich dessen, ob und wie viel davon man erlaubt, preist, ver­bi­etet, fürchtet oder bes­timmten Anlässen zuweist. Das liegt meines Eracht­ens daran, dass sie beson­ders direk­te und nahe­liegende, daher eher metonymis­che als metapho­rische Sym­bole für Gefüh­le sind – sie eignen sich nicht ein­fach nur, son­dern sind es ein­fach. So viel Phänom­e­nolo­gie erlaube ich mir. Men­stru­a­tion­ssekret hinge­gen scheint fast über­all eine sehr machtvolle und daher meist unreine Sub­stanz zu sein, von der sich vor allem die Män­ner fern­hal­ten müssen. Woran das liegt, ob an der Angst vor ein­er arche­typ­is­chen „Wunde“ oder an der patri­ar­chalen Scheu vor ein­er Weib­lichkeit, die sich sicht­bar der Herrschaft der Män­ner entzieht, kann und möchte ich nicht entschei­den.

Milch hinge­gen ist zumin­d­est in Europa und Indi­en ger­adezu sprich­wörtlich rein, hat sehr ver­gle­ich­bare Kon­no­ta­tio­nen der stereo­typen Müt­ter­lichkeit, der Nahrung, Hingabe, Leichtheit, Gesund­heit, Kindlichkeit und so fort. „Freude trinken alle Wesen / an den Brüsten der Natur“, wie es in Schillers “Ode an die Freude” heißt, kön­nte auch in ein­er Hin­du-Hymne ste­hen. Pro­duk­te der Kuh dienen in fast jedem Hin­du-Rit­u­al der Sal­bung, Reini­gung oder Speisung der zu verehren­den Wesen. Vor diesem Hin­ter­grund kön­nen dann auch Kot und Urin (der Kühe), anson­sten eine unreine, ver­pönte Sub­stanzen, zum Heilmit­tel wer­den. Das heißt jedoch nicht, dass der Ekel davor in der “indis­chen Kul­tur” nicht existiere, son­dern im Gegen­teil seine bewusste Über­win­dung zum Teil religiös­er Kul­tivierung der Gefüh­le wird.

Die Göt­tin Kamakhya aus Assam, Ostin­di­en, während ihrer Men­stru­a­tion. Ger­rit Lange: “Diese find­et ein­mal im Jahr statt, im Juni, und wird mit dem Fes­ti­val Ambūbācī Melā gefeiert. Im Inneren des Tem­pels befind­et sich keine Abbil­dung der Göt­tin, son­dern stattdessen ein Stein in Form ein­er yoni (Vul­va), umspielt von einem natür­lichen Bach. Damit ist der Tem­pel ein­er der bis zu 64 śak­ti pīṭhas, „Sitze der Göttin/Kraft“. An diesen Orten sollen sich die Kör­perteile der Göt­tin Satī befind­en, die nach ihrem Selb­stopfer von Śiva und Viśnu über den ganzen Sub­kon­ti­nent verteilt wur­den.“
Quelle: Wiki­me­dia

REMID: Welche Rolle haben denn die Kör­per­flüs­sigkeit­en in Bezug auf magis­che Vorstel­lun­gen? Sie haben das ja bere­its angedeutet — etwa mit Men­stru­a­tion­ssekret als beson­ders machtvoller Sub­stanz. Mir fall­en spon­tan his­torische Vorstel­lun­gen ein — vom Sper­ma des Gehängten zur Her­stel­lung des Alraunen über Chris­t­ian Franz Paulli­nis Heil­same Dreck­apotheke, “wie nem­lich mit Koth und Urin Fast alle/ ja auch die schwerste/ gifftig­ste Kranckheiten/ und beza­uberte Schaden … curiret wor­den” (1697) bis zur Blut­mys­tik manch­er Vertreter mod­ern­er vam­pir-affin­er Sub­kul­turen. Auch das scheint ja den Meta­phern­be­griff noch ein­mal zu erweit­ern?

Danke für diese Quellen, die waren mir bis­lang noch gar nicht bekan­nt. Vam­piris­mus ist ein so großes The­ma, dass ich ihn nur sehr vor­sichtig gestreift habe, um dieses Fass nicht auch aufzu­machen — aber ger­ade Blut bietet sich als Meta­pher für das strotzende, strudel­nde “Leben an sich” an, das quan­tifizier­bar ist, über­hand nehmen oder auch aus­ge­saugt, aus­getrock­net wer­den kann. Über­haupt wird Vital­ität in den englis­chen und deutschen All­t­agssprachen oft als “in uns” enthal­tene Flüs­sigkeit charak­ter­isieren, wie Johnsen und Lakoff anhand viel­er Beispielphrasen darstellen. Die damit ver­bun­de­nen Vorstel­lun­gen sind tat­säch­lich oft wesentlich mehr als bewusste oder unbe­wusste Bedeu­tungsüber­tra­gun­gen, son­dern erheben Real­ität­sanspruch:

  • Eine magis­che Hand­lung wen­det einen Angriff dämonis­ch­er Blutsauger_innen (die Beto­nung der Geschlechtlichkeit ist in jew­eili­gen Zusam­men­hän­gen von zen­traler Bedeu­tung) ab oder dient selb­st dazu, aggres­siv andere Men­schen oder Wesen zu “ver­wun­den”, ob nun kör­per­lich oder psychisch/spirituell.
  • Eine völkische Sozi­olo­gie imag­iniert eine abgegrenzte/abzugrenzende Gesellschaft als “Volk­skör­p­er”, in den Fremd­kör­p­er infek­tiös ein­drin­gen oder par­a­sitär Blut saugen.
  • Medi­zinis­che Akteure lassen ihre Patien­ten zur Ader, um ein inneres “Gle­ichgewicht” wieder herzustellen, sowohl in soma­tis­ch­er als auch in psy­chol­o­gis­ch­er Hin­sicht. Säftelehren europäis­ch­er als auch indis­ch­er Herkun­ft bün­deln die Fak­toren von Gesund- und Krankheit in Kör­per­säften, die es ein­er­seits hin­sichtlich ihrer jew­eili­gen Menge, ihres Mis­chungsver­hält­niss­es zu kon­trol­lieren, ander­er­seits aber auch zu “kühlen” oder zu “wär­men” gilt. Ihre “Tem­per­atur” lässt sich wed­er bei Theophrast noch im südindis­chen Dorf Kalap­pūr physisch messen, son­dern meint auch psy­chol­o­gis­che Para­me­ter. Von der Tem­per­atur der (eben­falls empirisch nicht wirk­lich vorhan­de­nen) “schwarzen Galle” hängt es ab, ob die alt­griechis­che “Melan­cholie” sich etwa als Niedergeschla­gen­heit und Apathie oder als hibbe­liger Enthu­si­as­mus äußert, in jün­geren Worten als Depres­sion oder als Manie.

Im voraufk­lärerischen europäis­chen Denken wie auch in Geschicht­en rumänis­ch­er Roma des 19. Jahrhun­derts heben die Diskurse Medi­zin und Magie sich ohne­hin nicht sehr voneinan­der ab. Ich würde auch in den medi­zinis­chen The­o­re­men und den “magis­chen” Rit­ualele­menten metapho­rische Ele­mente sehen, die zu mythis­chen Erzäh­lun­gen zusam­menge­fügt wer­den — voraus­ge­set­zt, man befre­it die Meta­phern und Mythen von ihrem schlechtem Ruf als “uneigentliche Rede” bzw. “falsche Erk­lärun­gen der Welt”. Magie ist erst recht ein schwieriger Begriff, der sich nicht so recht von sein­er alten Geschichte als Schmäh­wort gegen pri­vate, “niedrige”, nicht staats- oder kirchenkon­forme religiöse Akte lösen kann. Daher ver­wende ich ihn in mein­er Arbeit auch kaum, obwohl ich dem “magis­chen Denken” in physis­chen oder ono­matopo­et­is­chen Analo­gien, Gle­ich- oder Anklän­gen, Ver­wand­lun­gen, Wirkun­gen und Wirk­lichkeit­en dur­chaus etwas abgewin­nen kann. Ger­ade das The­ater lebt von der Über­tra­gung von Gesten und Sprüchen, die Wirkun­gen ent­fal­ten — ohne dass das Gese­hene und Emp­fun­dene unbe­d­ingt geglaubt wer­den muss. Aber Glauben ist meines Eracht­ens auch für die Wirkung und Bedeu­tung von Mythen und Meta­phern keineswegs eine notwendi­ge Bedin­gung.

REMID: Kom­men wir zurück zum “Hin­duis­mus” von Friedrich von Schiller. Für gewöhn­lich gilt es ja als Kennze­ichen der lit­er­arischen Epoche der Weimar­er Klas­sik (und ihrer Vor­läufer im soge­nan­nten “Sturm & Drang”) die griechis­che Dich­tung wieder­ent­deckt zu haben — ein­schließlich der Ver­suche mit­tels ein­er solchen griechisch-lyrischen Ori­en­tierung sich gegenüber ein­er vorheri­gen Ori­en­tierung an lateinis­ch­er Dich­tung abzuset­zen. Die Roman­tik­er — ent­täuscht von der Rev­o­lu­tion in Frankre­ich — wieder­holten diesen Schritt. Nur dies­mal war es das Indis­che, welch­es als neues Ide­al fungierte. Und Friedrich von Schlegel behauptet etwa, die Quelle der griechis­chen Mytholo­gie sei die indis­che.

Dass alle Wesen die Freude an den Brüsten der Natur trinken, hat Schiller nicht aus indis­chen Mythen über­nom­men. Dazu waren diese in Europa vor 1800 ein­fach noch zu unbekan­nt, zumal dieses Bild auch in Europa sehr nahe liegt: die griechis­che Antike ken­nt ihr Land, wo Milch und Honig fließen, und die Kirchen ken­nen ihre milchen­den, weinen­den oder blu­ten­den Marien­stat­uen sowie ihre in Kat­e­chis­men abgepack­te “Gnaden- und Weisheitsmilch”. Um die Geschichte von Pṛthvī zu ken­nen, hätte Schiller sich mit der Textgat­tung der Purāṇas auseinan­der­set­zen müssen, viele der­er Mythen­erzäh­lun­gen in Indi­en zwar äußerst bekan­nt waren und sind, in Europa allerd­ings bis ins 20. Jahrhun­dert hinein noch kein großes Inter­esse fan­den.

REMID: Warum assozi­ieren “wir” eigentlich Kör­per­flüs­sigkeits­bilder mit Ursprünglichkeit?

Weil “wir” uns als aufgek­lärte, vergeistigte Wesen entwer­fen, die unsere Kör­p­er ver­leug­nen, weil wir uns sein­er Macht unbe­wusst sind, weil wir Scham, Ekel und Lust ver­drän­gen? Oder zumin­d­est einige wenige, vielle­icht die tonangeben­den unter “uns” im 19. Jahrhun­dert halb­wegs diesem Klis­chee entsprachen?
Nun, ich weiß gar nicht, ob ich diese Assozi­a­tion teile. Doch die Begriffe von Kör­per­lichkeit und Nichtkör­per­lichkeit (ob nun als Psy­che, als Denken, als Spir­i­tus oder als Seele), die vielle­icht eher die Extreme ver­schieden­er Grade von “Licht” und “Dunkel­heit” oder auch der “Leichtigkeit” und “Schwere” sind, hän­gen schon auf­fal­l­end oft mit den Vorstel­lun­gen von Him­meln und Unter­wel­ten, Auf­stiegen und Abfällen zusam­men.

Schw­er und belas­tend ist die Sünde, die Arbeit, die Ver­drän­gung — sie drück­en das wie auch immer gestrick­te Ich hinab in die Höl­lenpfuh­le, in die gesellschaftliche “Basis” oder auch in die dämm­ri­gen, schmerzhaften, fürchter­lichen Alb­traumwel­ten eines “Unter­be­wusst­sein”. Über­all da triefen Schweiß und Trä­nen, Kot und ver­ruchte Sekrete — beson­ders dort, wo religiöse Sys­teme ihre Höllen aus­malen, fließen ganze Flüsse aus Wolf­ss­ab­ber (i), aus Trä­nen (ii), Blut oder Eit­er (iii). [(i) Snor­ra Edda, Gylfagin­ning 34; (ii) zoroas­trisches Buch des Arda Viraf 4.16; (iii) Bhā­ga­va­ta — Purāṇa 5.26, ähn­lich sieht die Hölle auch im Popol Vuh aus.]

Unter­wel­ten sind nicht unbe­d­ingt ursprünglich­er als Him­mel oder Paradiese, deren Bewohn­er dur­chaus auch meist ihre eigene, wenn auch leichte und unbeschw­erte, “unschuldige” Kör­per­lichkeit haben. Insofern sie oft als kindlich oder frisch gel­ten, haftet den Bildern vom himm­lis­chen Leben auch das Aro­ma großer Uran­fänglichkeit, eines “gold­e­nen Zeital­ters” an. In einem solchen jedoch pflegt die Milch in Strö­men zu fließen.

Das ver­wun­dert phänom­e­nol­o­gisch gar nicht, ist Milch doch in der Regel eines der aller-allerersten Wun­schob­jek­te jedes Men­schen. Und alles andere, was so durch den und aus aus dem Kör­p­er sup­pt, ist uns von früh an wohlbekan­nt oder zumin­d­est näher als das meiste son­st. Da sich darin all die vergesse­nen Vor­fahren und auch die Tieren in unser­er Umwelt wohl nicht großar­tig von “uns” unter­schei­den, ließe sich vielle­icht fast mit Fug und Recht von Ursprünglichkeit sprechen?

Danke für das Inter­view.

Ger­rit Lange beim Sci­ence Slam im KFZ Mar­burg

Das Inter­view führte Kris Wagen­seil, Juni 2015. Über­ar­beit­et von Mona Stumpe, 2024.


Schreibe einen Kommentar