REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Im Juni 2021 habe ich mich erfolgreich auf ein Abschlussstipendium von REMID e. v. beworben und konnte mit dieser Förderung meine Masterarbeit mit dem Titel „Atheistische Online-Community – Untersuchungen zu sozialen Interaktionsformen von Atheist*innen auf Reddit“ verwirklichen. Verfasst wurde die Arbeit unter Supervision von Frau Dr. Carmen Becker und Herrn Dr. Steffen Führding und eingereicht im Institut für Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover.
Thema
Thematisch lässt sich die Arbeit grob im Feld von Studien über Nicht-Religion (nonreligion) einordnen. Im Fokus stehen hierbei primär Phänomene, welche selbst in der Regel nicht als „religiös“ klassifiziert werden, gleichzeitig aber einen unmittelbaren und mitunter zwingend notwendigen Bezug zu Religion aufweisen. Atheismus wie auch verwandte Bereiche wie Antiklerikalismus oder Religionskritik sind in diesem Kontext naheliegende Beispiele. Die religionswissenschaftliche Relevanz ergibt sich dabei in erster Linie daraus, dass gleichzeitig Schlüsse über die Wahrnehmung von und Haltung gegenüber „Religion“ gezogen werden können. Dies wurde im Rahmen der Ergebnissicherung meiner Arbeit ebenfalls deutlich.
Abseits dieser akademischen Situierung ist der Forschungsgegenstand in einer nordamerikanisch und anglophon Prägung zu kontextualisieren, was sich primär aus dem untersuchten Feld ergibt. Reddit ist eine 2005 gegründete Social-News-Website, welche Foren für nahezu sämtlichen Themen und Interessengebiete bietet. Userinnen finden sich in für sie relevante Unterforen (sog. Subreddits) zusammen und tauschen sich aktiv unter einander aus. Gibt es zu einem Thema noch kein Subreddit oder wird der bisher existierende als unzufrieden stellend wahrgenommen, können Userinnen ein neues Unterforum gründen und dort in Kontakt mit anderen treten. Nach eigener Angabe verzeichnet Reddit derzeit über 100.000 solcher thematischen Foren sowie täglich über 52 Millionen Userinnen. Im Jahr 2021 belegte Reddit Platz 21 der weltweit am häufigsten besuchten Internetseiten. Der sich auf Atheismus fokussierte Subreddit r/atheism wird von ca. 2,7 Millionen Userinnen besucht und stellt damit nach eigener Darstellung das größte Online-Forum für Atheistinnen dar. Ohne an dieser Stelle zu weit in Details zu gehen, war es in diesem Sinne auch ein Anliegen der Masterarbeit, das Potenzial von Online-Foren allgemein und Reddit bzw. r/atheism im Spezifischen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung hervorzuheben.
Vorgehen
Kernanliegen der Masterarbeit war es, einen qualitativ erhobenen Einblick in die Lebensrealität und relevanten Diskussionsthemen von Userinnen des Online-Forums r/atheism zu erhalten. Aufgrund des beschränkten Umfangs konnte zwar kein Anspruch auf Generalisierbarkeit und Repräsentativität erhoben werden, dennoch wurden mittels Vergleiche wiederkehrende Narrative, Themen und Motive ausgemacht. Die Datengrundlage ergab sich aus einem zeitlich abgegrenzten Auszug aus den Forumsinhalten von r/atheism: In einem Zeitraum von zwei Wochen wurden sämtliche textbasierten Forumsbeiträge und die in dieser Zeit hinzugefügten Kommentare erhoben. An diese Stelle kam das Stipendium von REMID besonders gelegen, da ich für die Datenerhebung tatsächlich finanzielle Kosten aufbringen musste. Um die Forumsbeiträge übersichtlich zu organisieren und zu strukturieren, wurde sich die kostenpflichtige Analyse-Software MAXQDA zu Nutzen gemacht. Als PDF exportiert wurde somit jeder einzelne Forumsbeitrag (=Thread) inklusive der dazugehörigen Kommentare in MAXQDA eingespeist, codiert und mit Memos versehen. Letztendlich ergaben sich hieraus insgesamt 279 Analyseeinheiten, welche die Grundlage für die vergleichende Analyse bildeten.
Ergebnisse
Im Theorieteil der Arbeit wurde zunächst der Fokus auf den gesellschaftlichen Kontext US-Amerikanischer Atheistinnen gelegt. In diesem Zuge herausgestellt hat sich der normative Status von Religion innerhalb der Zivilgesellschaft und sein unmittelbarer Einfluss auf die Stigmatisierung und Diskriminierung all derjenigen, welche von dieser Norm abweichen. Dadurch, dass Religiosität in den USA eine stark national-identitätsstiftende Bedeutung zukommt und mitunter als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft verstanden wird, werden Atheistinnen als kulturell und ideologisch Andere konstruiert. Die hieraus abgeleitete Wahrnehmung als marginalisierte Minderheit rückt wiederum Fragen von individueller wie kollektiver Identität in den Vordergrund, sodass das Outing als Atheistin weit über die persönliche Ablehnung des Gottesglaubens hinausgeht. Herausgearbeitet wurde, wie Atheistinnen sich aufgrund kollektiver Alltagserfahrungen untereinander mobilisieren und politische Forderungen nach Gleichberechtigung und Akzeptanz formulieren. Sog. atheistischer Aktivismus wird dabei in erster Linie unter dem Schlagwort der Identitätspolitik verhandelt, in dessen Rahmen sich Minderheitsdiskurse bedient wird und das Selbst mittels der Grenzziehung zu Religion(en) konstruiert wird. Religion und religiöse Menschen werden in diesem Zusammenhang überwiegend als Antagonistinnen und potentielle Bedrohung wahrgenommen.
In besonderer Weise haben sich Ideen von Minderheitsdiskursen, Identitätspolitik, Othering und (politischer) Mobilisierung im Rahmen der Analysearbeit widergespiegelt. Religionskritik (aufgeteilt in Kritik an religiösen Menschen, Institutionen und Ideen bzw. Vorstellungen) etwa nimmt in dem Subreddit eine zentrale Rolle ein. In der Masterarbeit wurde dies vor allem als Ausdruck des Othering gedeutet, in dessen Zuge das eigene Selbst (rational, wissenschaftlich vernünftig) aufgewertet und das konstruierte Andere (irrational, verblendet, potentiell gewaltbereit) abgewertet wird. Die Erhöhung des Selbstbildes ist zudem unmittelbar als Ergebnis der erfahrenen Stigmatisierung und Diskriminierung von Atheistinnen in den USA zu verstehen. Gleichzeitig hat die gesellschaftliche Stellung zur Folge, dass Userinnen das Forum nutzen, um Gemeinschaft, Solidarität und gegenseitigen Beistand zu suchen. Aus zahlreichen Forumsbeiträgen ging hervor, dass Reddit und das Internet allgemein ein Rückzugsort und „safe space“ angesichts der als übergriffig und feindlich gesinnt wahrgenommenen und religiös dominierten Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Der Austausch mit Gleichgesinnten, das Erbitten um Hilfe und Rat (zum Beispiel wie sich gegenüber den Eltern „geoutet“ werden soll) und das gegenseitige Beistehen in Konfliktsituationen scheint für eine Großzahl der Userinnen einer der wichtigsten Gründe, regelmäßig das Forum aufzusuchen.
Eine wesentliche Erkenntnis der Arbeit war schließlich, dass sich Atheistinnen zwingend mit diversen Dimensionen von Religion konfrontiert sehen. Nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Unglaubens sind Atheistinnen von Religion geprägt, da ein großer Teil ihres Alltags davon bestimmt ist, in einer Umwelt zu leben, welche Religiosität als Norm und Zugehörigkeitsmerkmal voraussetzt. Dabei spiegelt sich die eigene Abweichung in nahezu sämtlichen Lebensbereichen wider: Arbeitsumfeld, Beziehungen zu Familie und Freundinnen, aber auch die persönliche Belastung angesichts eines gesamtgesellschaftlichen Drucks, sich religiös zu bekennen. Die prinzipielle Gegensätzlichkeit von Atheistinnen und religiösen Menschen, wie sie aus der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Userinnen von r/atheism zu entnehmen ist, wird vor allem in Berichten über gemeinsame Interaktionen sichtbar.
Die Auseinandersetzung mit religiösen Verwandten, Bekannten und anderen Personen des sozialen Umfelds stellt vor diesem Hintergrund eine Konstante innerhalb des Subreddits dar. Mit der Allgegenwärtigkeit religiösen Denkens und seinem Einfluss auch auf politischer Ebene wird das religiöse Umfeld als Gefährdung des eigenen Wohls betrachtet. Ausdruck findet dies in Erfahrungsberichten, in welchen Userinnen u. a. hochgradig persönliche Informationen teilen und tiefe Einblicke in emotionale Themen geben. Entsprechend einfühlsam und entgegenkommend fallen auch die Reaktionen der Reddit-Community aus. Obwohl es sich bei den Akteuerinnen des Forums letztendlich um anonyme Fremde handelt, finden sich Hinweise darauf, dass r/atheism für Viele eine Support-Plattform von großer emotionaler Bedeutung bietet. Der Subreddit fungiert hier zum einen als Mediator für atheistisch relevante Inhalte, ermöglicht gleichzeitig aber auch den persönlichen Austausch mit Gleichgesinnten. Neben der Funktion als „safe space“ und Plattform für emotionalen Beistand und den Abbau psychischer Belastung, wird das Online-Forum also für Informationsaustausch und die weltanschauliche Bestätigung genutzt. Hierbei handelt es sich um eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Arbeit, welche letztlich Antworten darauf liefert, weshalb Online-Umgebungen wie r/atheism von zentraler Bedeutung für gegenwärtigen Atheistinnen sind: Sie bieten gesellschaftlich marginalisierten und isolierten Menschen Zuflucht vor ihrem religiös dominierten Alltag und ermöglichen ihren Userinnen Bewältigungsmechanismen und persönliche Weiterbildung.
Aus religionswissenschaftlicher Perspektive von Interesse ist des Weiteren die Tatsache, dass „Religion“ in dieser Arbeit zwar nicht das eigentliche Forschungsobjekt darstellt, dennoch von zentraler Bedeutung ist. Atheismus kann nicht ohne den Rückbezug auf Aspekte des Religiösen untersucht und verstanden werden, sondern ist stets in einem dualistischen Verhältnis zu begreifen. Für die Religionswissenschaft bestätigt dies abermals, dass auch die Auseinandersetzung mit dem breiten Feld der Nicht-Religion einen wesentlichen Beitrag zu der Erforschung von Religion liefert. Darüber hinaus hat die Analyse von r/atheism wiederholt bestätigt, welches Potenzial die Analyse Online-Umgebungen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung besitzt. Im Vergleich zu „klassischen“ Erhebungssituationen sind die Charakteristika von Online-Räumen wie Reddit schlichtweg zu eigen, als dass sie für eine ganzheitliche Untersuchung eines Forschungsbereichs ignoriert werden können. Im Falle dieser Arbeit konnte so gezeigt werden, wie sich das Alltagsleben von Atheistinnen abseits formaler Organisationen oder öffentlichkeitswirksamer Leitfiguren gestaltet. Die Kombination aus Anonymität und digitaler Öffentlichkeit ermöglichte einen nahezu ungefilterten Blick in die Lebensrealität von durchschnittlichen Atheist*innen, ihre alltäglichen Sorgen und Probleme und die Konstruktion ihrer religiösen Umwelt. Das Maß persönlicher Involvierung und emotionaler Tiefe gibt nicht nur Aufschluss über die Funktion von r/atheism, sondern verdeutlicht auch den Stellenwert, der mit dem „Bekenntnis“ zum Atheismus in einer ansonsten stark religiös geprägten Umwelt einhergeht.
Sebastian Mihatsch, M.A.