REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Die Geschichte des türkischen Chasarenvolkes ist eigentlich ein eher unscheinbares historisches Thema. Um sie herum hat sich jedoch eine Verschwörungstheorie entwickelt, die möglicherweise die kurioseste in der jüdischen Geschichte ist. Bis heute wird der Ablauf der chasarischen Geschichte in wissenschaftlichen und verschwörungstheoretischen Kreisen diskutiert, sogar die russische Invasion der Ukraine ließ das Thema wieder aufblühen. Doch wie kam es dazu?
WER SIND DIE CHASAREN?
Die Chasaren waren ein semi-nomadisches Volk, dass vom 7. bis zum 10. Jahrhundert den Kaukasus bewohnte. Sie haben vermutlich nicht geschrieben, wodurch fast alles, was man heute über sie weiß, aus arabischen Reiseberichten über die Region stammt. Und diese Berichte behaupten teilweise, dass das Volk der Chasaren irgendwann zum Judentum konvertiert ist.
Konversionen sind in der Geschichte des Judentums relativ selten und notorisch kompliziert, unter anderem erfordern sie beispielsweise eine Erwachsenenbeschneidung1. Ein gesamtes Reich mit einer kollektiv konvertierten jüdischen Regierung wäre daher wirklich eine Besonderheit.
Diese kuriose Geschichte faszinierte auch den Schriftsteller Arthur Koestler (1905–1983). Koestler war kein Historiker, aber jemand der Geheimnisse und Rätsel liebte. Sein Roman „Sonnenfinsternis“ (1940)beschreibt die Kommunikation mit Klopfcodes und „Der göttliche Funke“ (1964)handelt von ähnlichen Chiffren, Geheimcodes und Matrizen. Sein Werk „Der dreizehnte Stamm“ (1976) widmete sich den aus den Reiseberichten überlieferten Gerüchten und beschrieb, wie die Chasaren zum Judentum konvertierten. Koestler vermutete sogar, dass ein Großteil des heutigen aschkenasischen Judentums von diesen konvertierten Chasaren abstamme. Nachdem der israelische Historiker Shlomo Sand die Theorie von Koestler in seinem Bestseller „Die Erfindung des jüdischen Volkes“2 (2009) aufgriff, wurden die Chasaren zu einem Diskussionsthema in wissenschaftlichen und nichtakademischen Kreisen3.
FAKE JEWS
Die Theorie der sogenannten „Fake Jews“ gewann unter Verschwörungstheoretikern großen Zuspruch, auch wenn Koestler selbst sich von allen Verschwörungstheorien distanzierte.4 Die Idee von konvertierten „Fake Jews“5 kam antisemitischen Verschwörungstheoretikern aus allen politischen Lagern sehr gelegen6. Die heutigen Juden wären demnach nicht mehr das schützenswerte edle Volk der Israeliten, das auserwählte Volk Gottes, sondern parasitäre Betrüger7. Und eigene Aussagen gegen Jüdinnen und Juden wären dann auch nicht mehr antisemitisch, weil sie sich ja nicht gegen die „echten Juden“, sondern die chasarischen „Fake Jews“ richten würden.
Diese Chasarentheorie wurde außerdem auch antizionistisch ausgelegt: Wenn die aschkenasischen Juden gar nicht das biblische Volk aus Palästina wären, warum sollten sie dann ein Rückkehrrecht in dieses Land haben? Israel als Staat der „Fake Jews“ wurde damit zur „Fake Nation“8.
Diese Theorie wurde immer populärer, obwohl Koestlers „Der dreizehnte Stamm“ selbst die Aberkennung des Existenzrecht Israels schon verneinte: „the State of Israel’s right to exist […] is not based on the hypothetical origins of the Jewish people[…]. Whether the chromosomes of its people contain genes of Khazar or Semitic, Roman or Spanish origin, is irrelevant, and cannot affect Israel’s right to exist“.9
DIE CHASAREN UND DER UKRAINEKRIEG
Mit der russischen Invasion der Ukraine bekam die Verschwörungstheorie der Chasaren eine neue Bedeutung. Die komplexe politische Beziehung der Ex-Sowjetstaaten wird in diese Theorie stark vereinfacht und „die Juden“ werden zum Strippenzieher im Geheimen – mithilfe einer pseudowissenschaftlichen Erklärung. Die „Chasarenmafia“ steuere beide Seiten des Krieges, die direkten Nachfolger der zum Judentum konvertierten Chasaren10.
Schon im April 2022 wurde dieses Bild auf der russischen Social Media-Plattform vk verbreitet11. Es zeigt antisemitische Karikaturen von Juden mit russischer und ukrainischer Maske, sowie die russische und ukrainische Flagge mit Davidstern im Zentrum, der israelischen Flagge nachempfunden. Sowohl Russland als auch die Ukraine sollen demnach heimlich jüdische Staaten sein und der aktuelle Konflikt sei nur ein weiteres Komplott der Juden. In russischsprachigen Telegram-Kanälen heißt es dann: „Die Ukraine ist die Heimatstätte und letzte Bastion der Chasarenmafia, die den Deep State der Welt kontrolliert“ und „Die Rothschild-Chasarenmafia […] kontrolliert das Bankwesen, […], das Parlament, die Massenmedien“.12
Anders als andere Verschwörungstheorien, die oft auf absurde Konzepte wie eine flache Erde oder humanoide Echsen setzen, besitzt die Chasarentheorie einen vermeintlich realwissenschaftlichen Kern. Wissenschaftler und Verschwörungstheoretiker spekulieren über dieselbe Frage um die Herkunft der Chasaren, sodass die Grenzen zwischen akademischer und verschwörerischer Wissensfindung verschwimmen.
DAS CHASARENMÄRCHEN
Für meine Bachelorarbeit las ich zum ersten Mal die arabischen Reiseberichte zu den Chasaren im Original und war erstaunt darüber, was für eine Nebenrolle das Thema Judentum für die Autoren spielte: al-Masʿūdī schweifte lang über die Geographie der kaukasischen Gebirge aus, Ibn Faḍlān beschrieb minuziös die Bestattungsriten der Chasaren und Ibn Rusta verlor sich in detailliertesten Beschreibungen des chasarischen Militärs – zur Religion der Chasaren schreiben sie aber nur kurze, relativ trockene Absätze. Für die herrschenden Khalifen, die die Autoren beauftragten, war militärisches Wissen viel relevanter als die Religion der Chasaren: Wie sind ihre Städte aufgebaut? Wie stark ist ihr Militär? Welche Gebirge erschweren den Weg? Zur Religion wurden daher meist nur knappe Notizen gemacht.
Zum Ablauf der vermeintlichen Konversion der Chasaren zum Judentum findet sich hingegen in der – sehr wahrscheinlich nicht authentischen – Korrespondenz zwischen dem Chasarenkönig Josef und dem spanischen Historiker Chasdai ibn Shaprut eine märchenhafte Erzählung. In dieser Geschichte ruft der chasarische König Bulan je einen christlichen, muslimischen und jüdischen Gelehrten zu sich, um sich für die wahrhaftigste Religion von ihnen zu entscheiden. In einem Streitgespräch geben sowohl der muslimische, als auch der christliche Gelehrte zu, dass sie eher zum Judentum als zur jeweils anderen Religion neigen würden. Das Judentum, das selbst nicht missioniert, überzeugt den König und er nimmt schlussendlich die jüdische Religion an.
Die Geschichte erinnert an die Ringparabel aus Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing. Beide Geschichten haben auch denselben Ursprung. Die Legende von einem weisen Herrscher, der zwischen den drei abrahamitischen Religionen entscheiden muss, ist im Nahen Osten schon mindestens seit dem 8. Jhd. n.Chr. bekannt und wurde zu dieser Zeit zu einem häufigen literarischen Motiv. Es ist ein Gründungsmythos, der hier auch nur als solcher gemeint ist. Eine identitätsstiftende Legende, aber kein Versuch, tatsächliche Geschichte niederzuschreiben.
FALSCHE ÜBERSETZUNGEN
Neben dem Brief von Ibn Shaprut wird meist al-Masʿūdī zitiert, wenn es um die „Konversion“ der Chasaren zum Judentum geht:
„kāna tahawwuda maliki l‑ḫazari fī ḫilāfati r‑Rašīd“13, wörtlich: „Während der Herrschaft von Khalif Harun ar-Raschid [ungefähr 786–809 n. Chr.] wurde der König der Chasaren jüdisch“
Der verwendete Begriff tahawwud meint hierbei wahrscheinlich nicht unbedingt, dass es eine religiöse Konversion zum Judentum gab, sondern eher, dass ein gebürtiger Jude das Königsamt übernahm: Der König „wurde jüdisch“, weil ein Jude zum König wurde.
Und die Erklärung dafür liefert al-Masʿūdī direkt im Anschluss:
„wa-huwwa sannatu ʾiṯnān wa-ṯalaṯīna […] fa-tahāraba ḫalqun min al-yahūdi min arḍi r‑rūm ʾilā ʾardi l‑ḫazari“14, also: „Im Jahr 943 n.Chr. […] floh eine Gruppe von Juden [wegen Verfolgungen und Zwangskonversionen] aus dem Byzantinischen Reich in das Land der Chasaren“.
Aus dieser Quelle kann man rückschließen: Es gab keine Konversion, vielmehr übernahm eine Gruppe aus dem byzantinischen Reich geflohener Juden das Königsamt im Land der Chasaren. Das ist der Ursprung der jüdischen Chasaren – offensichtlich für jeden, der die Quelle im Original liest.
Leider arbeiten die meisten wissenschaftlichen Quellen eben nicht mit dem Originaltext, sondern mit einer Übersetzung: Das Interesse an dem Thema Chasaren kommt nicht primär aus der Arabistik oder Islamwissenschaft. Es sind vor allem Fachfremde, die nicht mit der Sprache der Hauptquellen vertraut sind, aber trotzdem unbedingt versuchen wollen, eine Theorie damit zu belegen oder entkräften. Und so sind sie den kreativen Neuinterpretationen von Übersetzern ausgeliefert:
„le judaïsme […] est devenu la religion dominante dans cet État“, also „Das Judentum wurde zu diesem Zeitpunkt zur dominanten Religion“15
Die bekannteste Übersetzung von al-Masʿūdī, die französische Übersetzung von de Meynard, weicht ohne ersichtlichen Grund von der originalen Bedeutung ab. Im Originaltext geht es nur um eine einzige Person: den chasarischen König, der jetzt Jude ist – und nicht der Verbreitung einer „dominanten Religion“.
„[the Khazars] embraced the tenets of the jews“, also „[die Chasaren] nahmen die Lehren der Juden an“16
Die bekannteste englische Übersetzung behauptet zwar nicht explizit, dass es eine Konversion zum Judentum gab – aber deutet zumindest stark darauf hin. Bedenkt man, dass al-Masʿūdī meint, dass ein gebürtiger Jude zum chasarischen König wurde, ergibt ein „Annehmen der Lehren der Juden“ keinen Sinn mehr.
Ob man die oben besprochenen Texte als freie Übersetzungen, Übersetzungsfehler oder „Verschönerung“ der historischen Tatsachen definiert, bleibt Ansichtssache. Sicher ist, dass die Texte von al-Masʿūdī basierend auf diesen Übersetzungen in der akademischen und nicht-wissenschaftlichen Welt falsch interpretiert wurden. Immer mit dem Ziel, die unglaubliche Geschichte von der Konversion wahrhaben zu wollen, obwohl die Originalquelle es nicht nahelegt.
ZU SCHÖN, UM NICHT WAHR ZU SEIN
Die Geschichte eines antiken türkischen Nomadenreiches, das tausend Jahre vor der Gründung des israelischen Staates einstimmig zum Judentum konvertierte, ist märchenhaft. Die Legende vom „dreizehnten Stamm“ ist so faszinierend und absurd, dass man sie einfach wahrhaben will.
Beispielhaft für diese Mentalität ist die DNA-Studie von Eran Elhaik (2012). Der israelisch-amerikanische Bioinformatiker versuchte eine genetische Verbindung zwischen den Chasaren und den heutigen europäischen Juden herzustellen, um damit zu prüfen, ob sie wirklich Nachfahren der jüdischen Chasaren sind. Da das Volk der Chasaren aber seit dem 10. Jahrhundert nicht mehr existiert und man daher keine DNA-Proben von ihnen nehmen kann, untersuchte Elhaik einfach DNA-Proben von Georgiern und Armeniern, da sie für ihn zur selben „genetischen Kohorte“17 gehörten.
Die DNA-Studie ist ein methodischer Albtraum. Man kann nicht einfach die DNA der heutigen Kaukasus-Bewohner mit den Chasaren des 10. Jahrhunderts gleichsetzen, noch weniger kann man damit die These von einer chasarischen Konversion zum Judentum beweisen. Trotzdem ist die Elhaik-Studie bis heute eine der meistzitierten Quellen zum chasarischen Judentum18 – nicht, weil sie eine fundierte Antwort auf eine wissenschaftliche Frage liefert, sondern weil sie eine einfache Antwort auf eine politische Frage bietet.
Eine ähnliche Situation ergab sich nach dem archäologischen Fund des jüdischen Friedhofes Çufut Qale in der heutigen Ukraine. Nachdem man dort Grabsteine mit hebräischen Inschriften fand, war die Antwort erstmal eindeutig: Das ist ein Friedhof der jüdischen Chasaren19. Eine spätere Analyse von Artem Fedorchuk ergab jedoch massive Fehler beim Auslesen der Todesdaten, die Grabsteine stammen aus dem 16. Jahrhundert und könnten daher unmöglich von Chasaren (7.–10. Jhd.) stammen.20
So ein grober Fehler von Historiker Abraham Firkowicz erklärt sich durch den confirmation bias: Mit der Geschichte der jüdischen Chasaren im Hinterkopf, ordnete er hebräische Inschriften auf dem ehemaligen Staatsgebiet der Chasaren schnell einander zu – und das auch, wenn die Geschichte von jüdischen Chasaren selbst total fragwürdig ist. Dieser Fehler ist das Resultat einer verzweifelten Suche nach einer schönen, einfachen Antwort für eine emotionale politische Frage.
JÜDISCHE CHASAREN?
Es ist an der Zeit, die Theorie der jüdischen Konversion der Chasaren nicht als kontrovers, sondern als unglaubwürdig zu beurteilen. Das schwere emotionale Gewicht der Chasarenfrage darf der unabhängigen wissenschaftlichen Bewertung der Quellen nicht im Weg stehen. Und diese ergibt eben, dass eine Migration einer Gruppe jüdischer Händler aus dem Byzantinischen Reich viel wahrscheinlicher ist als eine gesamtheitliche Konversion des chasarischen Volkes zum Judentum. Auch wenn es die „langweiligere“ Geschichte ist.
So sehr man sich danach sehnt, die Quellenlage zu den Chasaren ist dünn und die Frage nach ihrer Religion kann niemals endgültig beantwortet werden. Oft ist aber die einfachste Erklärung die naheliegendste – die historische Wahrheit ist meistens eben keine märchenhafte Geschichte.
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1 vgl. Dunlop, Douglas, The history of the Jewish Khazars, Princeton 1954: 118f.
2 hebräischer Originaltitel: „matai ve-ekh humtza ha-am ha-yehudi?“, „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“
3 z.B. Sahm, Ulrich, Das Chasaren-Märchen, Jüdische Allgemeine, (1.7.2014), https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/das-chasaren-maerchen; van Straten, Jits, The Origins of Ashkenazi Jewry (2011), Berlin/New York 2011; Stampfer, Shaul, Did the Khazars Convert to Judaism? (2013), Jewish Social Studies, Vol. 19, Nr. 3
4 vgl. Koestler, Arthur, The Thirteenth Tribe, London 1976: 196
5https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews, siehe auch das Unpacked-Video, dass den Begriff Fake Jews im Video-Thumbnail enthält: https://jewishunpacked.com/the-conspiracy-of-the-origin-of-ashkenazi-jews/
6 vgl. https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews
7 vgl. https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews
8 https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews
9 Koestler 1976: 196
10 https://www.adl.org/resources/blog/antisemitic-conspiracy-theories-abound-around-russian-assault-ukraine
11 https://vk.com/@adonaris-kto-razvyazal-voinu-mezhdu-rossei-i-ukrainoi
12 https://www.adl.org/resources/blog/antisemitic-conspiracy-theories-abound-around-russian-assault-ukraine
13 al-Masʿūdī / de Meynard, Barbier, de Courteille, Pavet, Les Prairies d’Or, Bd.2, Paris 1861: 8
14 al-Masʿūdī 1861: 8f.
15 de Meynard/al-Masʿūdī 1861: 8
16 Sprenger 1841, zitiert nach Stampfer 2013: 19
17 Elhaik, Eran, The Missing Link of Jewish European Ancestry: Contrasting the Rhineland and the Khazarian Hypotheses (2012), Genome Biology and Evolution, Vol. 5, Nr. 1: 64
18 vgl. Stamper 2013: 3
19 Fedorchuk, Artem, New Findings Relating to Hebrew Epigraphic Sources from the Crimea, with an Appendix on the Readings in King Joseph’s Letter, in: Golden, Peter (Hrsg.), The World of the Khazars, Leiden/Boston 2007: 109
20 Fedorchuk 2007: 121f.
Autor: Nizar Blass,
Bachelorstudent „Naher und Mittlerer Osten“ an der LMU München,
im Rahmen seines studienbegleitenden REMID-Praktikums