REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Zweiter Workshop im SoSe 2022 mit Assistenzprof. Dr. Andrea Rota
Was macht Gemeinschaft aus? Wie entsteht sie? Und welche Rolle spielen Medien im Prozess der Vergemeinschaftung? Diese Fragen beschäftigten die Teilnehmenden unseres zweiten Mapping Religionswissenschaft-Workshops dieses Semester mit dem Titel „Religion im Plural“.
Dr. Andrea Rota stellte zunächst seinen Werdegang zur Assistenzprofessur an der Universität Bern vor und diskutierte anschließend mit den Teilnehmenden Ergebnisse seiner Forschung bei den Zeugen Jehovas und der Associationof Vineyard Churces in der Schweiz. Ausgangspunkt war dabei der Aufsatz „Religion, Media, and Joint Committment“ (2019). Seine zentrale These darin: Die Konstitution von Gemeinschaft verlangt nicht, dass alle Mitglieder gewissen Moralvorstellungen oder Regeln folgen. Stattdessen entsteht Gemeinschaft durch das – beispielsweise rituell evozierte – Bewusstsein darüber, dass diese Regeln und Vorstellungen die Gemeinschaft ausmachen:
„These rules are not like those at a theme park forbidding its guests to dive into a pool (which presupposes the existence of the theme park); they are more like the rules of chess, without which chess would not exist.“Rota 2019, 103
So zeigt Rota, dass Mitglieder der Zeugen Jehovas zwar durchaus den Regeln und Moralvorstellungen in Bezug auf die Nutzung von Medien (Fernsehen, Internet, Videospiele etc.) zustimmen, wenn sie danach gefragt werden, ihr Verhalten davon aber zum Teil deutlich abweicht. Solange dieses Abweichen nicht kommuniziert wird, wird dadurch die Gemeinschaft oder die Zugehörigkeit zu ihr jedoch nicht angegriffen. Um diesen Kontrast zwischen individuellem Verhalten und Gemeinschaftlichkeit zu erklären, bedient sich Rota Margaret Gilberts Konzepts des plural subjects.
Mit dem Konzept ist eine Gruppe von Menschen gemeint die eine gemeinsame Intention teilen und sich damit in ein joint commitment begeben. Dieses kann, muss aber nicht den individuellen Ansichten oder Verhaltensweisen der Subjekte entsprechen. Für die Konstitution eines plural subjects genügt, dass man sich – verbal oder nonverbal – auf die gemeinschaftliche Intention einigt. Dies geschieht insbesondere in rituellen Kontexten, wobei dem Einsatz von Medien eine besondere Bedeutung zukommt: So finden bei den Zeugen Jehovas beispielsweise regelmäßige und stark standardisierte Treffen statt, während derer neben Bibelstellen auch Artikel der Zeitschrift The Watchtower diskutiert werden. Über Fragen-Antwort-Runden werden in diesen Treffen Inhalte der Zeitschrift abgefragt, wobei Teilnehmende im Vorfeld ermuntert werden, sich mit den Publikationen zu beschäftigen und sich so intensiv auf die Treffen vorzubereiten. Zentrale Medien der Religionsgemeinschaft dienen also dazu, rituell ein joint commitment herzustellen, das die Gemeinschaft als solche konstituiert.

Ausgehend von diesen Überlegungen zur Beziehung zwischen Religion, Medien und Gemeinschaft diskutierten die Teilnehmenden des Workshops über verschiedene Aspekte des Aufsatzes, wobei vor allem aktuelle Überlegungen aus dem Bereich der Religionsästhetik im Vordergrund standen: Braucht es eine Form der Kommunikation, um zu einem joint commitment zu kommen? Welche Rolle spielen beispielsweise Emotionen und Körperlichkeit im Ritualprozess? Inwiefern tragen sie zu einem joint commitment bei? Wie werden (kognitive und emotionale) Diskrepanzen zwischen individuellen Vorstellungen und dem joint commitment überbrückt? Und wie ist Nicht-Sprachliches für Wissenschaftler*innen fassbar?
Die intensive Diskussion zeigte, wie wichtig der Austausch zwischen verschiedenen Wissenschaftler*innen verschiedener Standorte und Forschungsschwerpunkte ist. Sozialwissenschaftlich orientierte Religionswissenschaftler*innen profitieren vom Input der Religionsästhetik und umgekehrt, ebenso wie die Beschäftigung mit Hindugöttinnen im Zentralhimalaya spannende Einblicke für die Erforschung von Neuen Religiösen Bewegungen im deutschsprachigen Raum bereithält. Und durch das Online-Format konnten Nachwuchswissenschaftler*innen aus so entfernten Orten wie Bergen, Wuhan, München, oder Göttingen an einem Freitagnachmittag mal eben niederschwellig selbst ein joint commitment eingehen: sich drei Stunden lang Zeit nehmen, um mit anderen Wissenschaftler*innen über aktuelle Debatten der Religionswissenschaft zu diskutieren und damit die Gemeinschaft des Faches zu stärken.