REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
REMID interviewt Jörg Albrecht vom Graduiertenkolleg “Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik” zum Thema seiner Doktorarbeit “Vom ‚Kohlrabi-Apostel‘ zum ‚Bionade-Biedermeier‘: Zur kulturellen Dynamik Alternativer Ernährung”. Dabei ist nicht nur spannend, dass er sich als Religionswissenschaftler diesem Gegenstand nähert, sondern dass gerade an einer solchen Transferleistung deutlich wird, was im Feld “theologischen” Debatten äquivalent wird, wenn das Feld religionswissenschaftlich bearbeitet wird, als ob es sich um religiöse Bewegungen handele. Das ist hier also methodologisch zu verstehen und gerade nicht als entwertend gedachte Polemik gegen die “alternativen” Formen der Ernährung.

Unter anderem steht als Motto vor deiner Doktorarbeit “Alles fließt” von Heraklit, und gerade nicht das Mens sana in corpore sano aus den Satiren des Juvenal (10,356; eigentl. “Beten sollte man darum, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei“, “[…] orandum est ut sit mens sana in corpore sano”). Wenn man sich das Kapitel über “ ‘Vollwertkost’ für den gesunden und autarken ‘Volkskörper’ (1933–1945)” anschaut, der erste Untertitel spricht gar von “Nazikost”, wird vielleicht auch klar warum. Wie siehst du unter diesen Vorzeichen das Verhältnis von Religion und Ernährung?
Bei der Ernährung handelt es sich bekanntermaßen um ein „soziales Totalphänomen“ im Sinne von Marcel Mauss: Dieser komplexe Zusammenhang, der auf dem menschlichen Grundbedürfnis nach Nahrung basiert und gleichzeitig weit darüber hinaus geht, durchzieht und verbindet auf der Makroebene alle Bereiche der Gesellschaft. Und selbst im Individuum verweben sich vermittelt über die Ernährung soziale, biologische und psychische Aspekte. Das Verhältnis von Religion und Ernährung kann daher sehr unterschiedlich aufgefasst werden.
I) Ernährung in Religionen: Klassisch versteht man unter dem Zusammenhang von Ernährung & Religion besondere Ernährungs- (bzw. Enthaltsamkeits-)vorschriften, die von Religionen im Rahmen der Regulierung der Lebensführung an ihre Anhänger gestellt werden. Darunter fallen dann zum Beispiel normative Reinheitskonzepte, etwa im Judentum oder Islam (kosher, halal), die bestimmte generelle oder temporäre Nahrungstabus, zulässige Zubereitungsweisen, Tisch- und Mahlzeitenordnungen usw. umfassen. Auch das Christentum hat eine entsprechende, reiche Tradition, insbesondere hinsichtlich des Fastens. Zudem findet sich hier – mehr oder weniger kontinuierlich – eine bis in die Antike zurückreichende Praxis des dauerhaften Fleischverzichts, zumeist aber beschränkt auf Gruppierungen von Spezialisten (v.a. Mönchsorden) oder religiöse Nonkonformisten (“Ketzer”). Allerdings ist die Geltung und Anerkennung solcher Speisevorschriften nie umstandslos und dauerhaft gegeben. Um beim Beispiel Christentum zu bleiben: So fanden bereits in der ‘Urgemeinde’ zwischen Repräsentanten der ‘Judenchristen’ und der ‘Heidenchristen’ Streitereien um die Verbindlichkeit der alttestamentlichen Speisegesetze statt. Trotzdem oder weil diese schließlich nicht für alle als bindend erachtet wurden, entwickelten sich zahlreiche neue ernährungsbezogene Vorschriften und Askesepraktiken, wie eben das Fasten (das heißt, der temporären Enthaltung von bestimmten Nahrungsmitteln). Im Kontext der Reformation wurde dies mit der Aufhebung der Speisegebote durch Zwingli erneut zum Thema, was selbstverständlich nicht bedeutete, dass nun wirklich ‘alles’ gegessen werden konnte. Solche (sich mitunter verändernden) Normen und Klassifikationen gradueller Zulässigkeit von Nahrungsmitteln sowie der Regulierung ihrer Herstellung, Zubereitung und Verzehrs finden sich in allen Ernährungskulturen – mehr oder weniger explizit.
II) Ernährung als Religion: Sodann können bestimmte Ernährungsweisen – insbesondere wenn die sie begründenden Normen über den Ernährungsbereich hinaus Folgen für das Verhalten und die Lebensführung haben – als Religion angesehen werden. Dies findet sich als Topos erst in Diskursen wesentlich jüngerer Zeit vorrangig im Zusammenhang mit Alternativer Ernährung. Zunächst als positiv konnotierte Selbstbeschreibung bei den ersten organisierten Vegetariern des 19. Jahrhunderts. Allerdings nicht als exklusive sondern als inklusive Kategorie, denn es wurde hervorgehoben, dass Anhänger verschiedener Religionen bzw. Konfessionen Mitglieder in den Vereinen gewesen seien. Mit den Veränderungen der Konnotationen des Religionsbegriffs entwickelte sich im Hinblick auf Alternative Ernährungsweisen die Gleichsetzung von Religion und Alternativer Ernährung als diskursives Mittel der Abwertung, Delegitimierung oder Sanktionierung der letzteren. Der ethisch motivierte Fleischverzicht wurde bereits in der Zwischenkriegszeit – als viele lebensreformerische Anliegen wie u.a. das Ideal einer gesünderen Ernährung bereits Teil der Alltagskultur geworden waren – als “verkappte Religion” bezeichnet und dies findet Nachhall bis in die jüngere Forschungsliteratur zum Thema [z.B. Barlösius (1997) und Fritzen (2006)]. Typisch ist, dass Alternative Ernährung dabei nicht als eine ‚richtige Religion‘ betrachtet wird, sondern als etwas so Ähnliches, als “quasi-religiöse” Vorstellungen und Praktiken [z.B. Hamilton (2000) und Zeller (2014): “Quasi-religious American Foodways: The Cases of Vegetarianism and Locavorism”, in: Zeller / Dallam / Neilson / Rubel / Lynne (Hg.), Religion, Food, and Eating in North America, Columbia University Press 2014, S. 294–312]. Besonders eindrücklich findet sich dies in der Gegenwart am Beispiel des Veganismus: Dieser wird zum Beispiel a) aus evangelisch-theologischer Perspektive als “Ersatzreligion” gedeutet [Kai Funkschmidt (2015): “Erlösung durch Ernährung. Veganismus als Ersatzreligion (Teil I)”, in: EZW Materialdienst, 2015, Nr. 11, S. 403–412 (Teil II in: Ebd., 2015, Nr. 12, S. 445–455)]. Oder er wird b) aus einer sich selbst als aufgeklärt und rational (natur-)wissenschaftlich verstehender Perspektive als “Religion” (negativ konnotiert) im Sinne eines ‚missionierenden fanatischen Irrationalismus‘ abgewertet (z.B. typische Forenkommentare zum Thema).
III) In meiner Arbeit habe ich einen ganz anderen Zugang gewählt und es hat eine Weile gedauert, bis ich zuversichtlich genug war, diesen Weg zu gehen: Ich betrachte den gesamten Ernährungskomplex (das heißt, das sogenannte „Ernährungssystem“ und seine Einbindung in eine unterschiedlich weitreichende Kooperation von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik) in heuristischer Absicht, ‘ALS OB’ es sich um Religion handele. Ausgehend von dem relationalen Ansatz der Bourdieuschen Feldtheorie behandele ich methodologisch das Verhältnis von Alternativer Ernährung und ihrem (tatsächlichen oder imaginierten) konventionellen Gegenüber als strukturell analog zum Heterodoxie-Orthodoxie-Verhältnis. Dabei zeigt sich, dass es im Verlauf der Zeit darin zu Transfers und Transformationen von kulturellen Elementen kommt, zu Synthesen und zur Neukonstellation von vormals nicht-hegemonialen bzw. hegemonialen Vorstellungen, Praktiken oder Akteuren. Meine Arbeit hat – auch wenn die Rekonstruktion der Geschichte der Alternativen Ernährung in ihr den größten Raum einnimmt – primär ein theoretisches Interesse am Problem des religiösen bzw. kulturellen Wandels, was ich am Fallbeispiel der “Alternativen Ernährung” bearbeitet habe. Den theoretischen Hintergrund bilden die Fragen nach dem Zusammenhang von Innovation und Nonkonformismus sowie nach ihrer Bedeutung für gesellschaftlichen und kulturellen Wandel insbesondere hinsichtlich sozialer Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse. Das heißt, es geht nicht zuletzt um die theoretische Deutung bestimmter allgemeinerer soziokultureller Veränderungen, die mithilfe des heuristischen Begriffs der kulturellen Dynamik bzw. des Problemfelds religiöser Nonkonformismus, Innovation und kulturelle Dynamik im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ an verschiedenen Beispielen untersucht wurden.
Das angesprochene Motto für meine Arbeit bezieht sich auf die kulturelle Dynamik der Veränderungen der Ernährungskultur, die ich untersucht habe. Dabei handelt es sich um Transformationen und Transfers Alternativer Ernährung, die sich über die longue durée des Untersuchungszeitraums vor dem Hintergrund und im Rahmen weit umfassenderer gesellschaftlicher Veränderungen – sowohl im Ernährungsbereich selbst, als auch in allgemeineren politischen, ökonomischen und kulturellen Hinsichten – vollzogen haben. Die sich damit stellende Aufgabe beinhaltete eben auch die Herausforderung, einen ‚Wandel im Wandel‘ zu rekonstruieren.

Du arbeitest mit der Methode einer genealogischen Rekonstruktion. Was bedeutet das genau und welche Genealogie von diskursiven Transformationen hast du ermittelt?
Von meiner akademischen Ausbildung her bin ich neben dem Religionswissenschaftler auch Philosoph, aber kein Historiker. Ich habe daher geschichtstheoretisch einen mir eher vertrauten Ansatz gewählt. Bekanntermaßen hat Nietzsche den Begriff der Genealogie prominent verwendet, um seine historisch-philosophischen Überlegungen zur Herkunft bestimmter moralischer Vorstellungen (und korrespondierender Praktiken) zu benennen. Foucault griff dieses Konzept später in einem berühmt gewordenen Aufsatz “Nietzsche, die Genealogie, die Historie” (EA 1971; in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 166–191) auf, um seine Vorgehensweise zu erläutern, die nicht zuletzt darin besteht, die Werdung von ‚Wahrheiten‘ zu historisieren. Es handelt sich dabei aus meiner Sicht auch darum, im Sinne einer kulturellen Abstammung oder Evolution Verbindungen und Verwandtschaften aber eben auch Brüche oder ‘Sackgassen’ in Entwicklungslinien zu identifizieren. Das Ziel ist dabei also im Grunde etwas ganz Banales und Selbstverständliches: In der Darstellung der historisch bedingten Veränderlichkeiten der Alternativen Ernährung sollen neben den Kontinuitäten auch die Diskontinuitäten herausgearbeitet werden, um eine essenzialistische, lineare und tendenziell teleologische Geschichtsschreibung (egal ob Fortschritts- oder Verfallsgeschichte) zu vermeiden.
Um das kurz an ein paar Beispielen von diskursiven Transformationen illustrieren: Ich vergleiche dazu mal ein paar Motive und Begründungen für Alternative Ernährung bzw. den Fleischverzicht zu verschiedenen Zeiten hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede:
Am Anfang des Untersuchungszeitraums findet man dafür erstaunlicherweise fast das gesamte Portfolio von Argumentationen, welches heute auch noch Verwendung findet. Dies betrifft die Kategorien der ethischen, gesundheitlichen und ökonomischen Motive und Gründe. Bereits in der ersten Generation der organisierten Vegetarier wurden kontrovers Fragen beispielsweise nach der Zulässigkeit des Verzehrs von Eiern und Milch, der Erhitzung der Nahrung und der Nutzung von Tieren überhaupt diskutiert und in unterschiedlichster Weise beantwortet. Auch finden sich in diesem Zusammenhang interessante ‚missionarische‘ Überlegungen: Etwa ob es nicht besser wäre, statt rigide aufzutreten und potenzielle Konvertiten zu überfordern zu Anfang nur niedrige Anforderungen an die Lebensführung zu formulieren und erst wenn der Fleischverzicht sich verbreitet hätte auch auf den Verzicht auf weitere tierische Produkte überzugehen.
Was hingegen völlig fehlt, sind die heute so präsenten ökologischen Begründungen. Dafür finden sich noch allerlei ‚sittliche‘, wie ich das nenne: Diese unterstellen eine Wirkung der Ernährung auf den Geist und den Affekthaushalt. Die bekannteste Argumentationslinie lautet: „Tiermord führt zum Menschenmord“. Aber auch spirituelle Reinheits- und Vervollkommnungsmotive lassen sich hierunter subsumieren.
Gesundheitliche Begründungen für den Fleischverzicht finden sich hingegen durchgehend bis zur Gegenwart. Allerdings haben sie sich inhaltlich drastisch mit den verändernden hegemonialen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit gewandelt. Fanden sich zu Anfang u.a. beispielsweise kaum anschlussfähige Überlegungen zu schädlichen Fäulnisprozessen bei der Verdauung von Fleisch, so wird mittlerweile auch von der hegemonialen evidenzbasierten Medizin der Konsum von Fleisch als Faktor für sogenannte ernährungsmitbedingte chronische Krankheiten aber auch etwa für Krebs angesehen.
Spannend finde ich auch die Variationen des ökonomischen Arguments: Dieses besteht grundlegend darin, dass Pflanzenkost billiger ist als Fleisch, weil dieses eine verlustreiche Transformation von jener durch die Tierhaltung darstellt. Volkswirtschaftlich wurde dies von den Vegetariern als Möglichkeit zur Lösung der „sozialen Frage“ angesehen, weil durch den Verzicht auf die Tierhaltung mehr Nahrungsmittel produziert werden könnten. Dies blieb jedoch zunächst ohne nennenswerte Resonanz über das lebensreformerische Milieu hinaus. Das änderte sich aber nach dem Ersten Weltkrieg mit veränderten ernährungswissenschaftlichen Ansichten und ernährungspolitischen Notwendigkeiten. Die Senkung des Fleischverzehrs in der Volksernährung wurde nun auf ernährungspolitischer Ebene im Rahmen von Autarkiebemühungen diskutiert und im Dritten Reich in einem gewissen Rahmen auch praktiziert. Dabei spielten neben den ökonomischen Erwägungen auch gesundheitliche eine Rolle, die nun allerdings rassenbiologisch auf den hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit zu optimierenden Zustand des „Volkskörpers“ bezogen wurden.
In den 1970er Jahren hingegen wurde nun von einzelnen Autoren das ökonomische Argument im Hinblick auf das Welternährungsproblem globalisiert und der Fleischverzicht als Lösung präsentiert, was wiederum kaum auf praktische Resonanz – sogar innerhalb des Alternativen Milieus – stieß. In einer ökologischen Variation tauchte dann das ökonomische Argument wieder in den 1990er Jahren auf: Die mit der industrialisierten Massenproduktion von Fleisch für den Verzehr verbundenen Methanemissionen der Wiederkäuer wurden als ein Faktor für den anthropogenen Klimawandel problematisiert. Damit konnte der Verzicht auf Fleisch ökologisch – auf das Allgemeinwohl, nicht auf das Tierwohl bezogen – begründet werden. Mit der Problematisierung der Massentierhaltung infolge der BSE-Krise wurde diese Argumentation plötzlich anschlussfähig und sehr erfolgreich popularisiert.
Im Gegensatz zum tierethischen Motiv, aus dem moralisch der konsequente Verzicht auf Fleisch (oder gar jegliche ‚Nutzung‘ von Tieren bzw. die grundsätzliche anthropologische Infragestellung der vorherrschenden Mensch-Tier-Verhältnisses überhaupt) logisch folgt, erlauben ökonomische bzw. ökologische und gesundheitliche („die Dosis macht das Gift“) Begründungen prinzipiell auch die Option der Fleischreduktion (als bewusst praktizierter Essstil gegenwärtig als „Flexitarismus“ bezeichnet). Daher zeigt sich in der Geschichte der Alternativen Ernährung, dass letztere eine breitere kulturelle Kompatibilität aufweisen während der ethisch motivierte Verzicht mit seiner inhärenten Kompromisslosigkeit am wenigsten anschlussfähig ist. Typischerweise wurde er aus Prozessen von kulturellen Synthesen Alternativer Ernährung (Ökonomisierung, Aufwertung, Verwissenschaftlichung etc.) regelmäßig ausgegrenzt. Selbst in der breiteren Popularisierung der veganen Ernährung seit etwa 2010 finden sich entsprechende Tendenzen, in denen gesundheitliche oder hedonistische Motive in den Vordergrund gehoben werden („Vegan for fun“ – Attila Hildmann).
Das letzte inhaltliche Kapitel zu alternativem Landbau (ca. 1910–2006) stellt dabei auch die Frage “Ist Alternativer Landbau zugleich ‘ökologischer’ Landbau?”. Das wäre demnach ein Äquivalent dazu, ob Religionswissenschaft sich für medizinische Wirksamkeit interessieren solle (vgl. Religion & Medizin: Ein Gespräch über Heil- und Heilungskonzepte zwischen den Disziplinen, 2018). Wie sind hier die Positionen im Diskurs — und deine eigene?
Ah, ich verstehe, die Frage scheint missverständlich formuliert, zumindest außerhalb des Kontextes meiner Arbeit. Nein, es geht hier nicht um die Wirksamkeit von Landbauformen im Hinblick auf irgendwelche Ziele. Natürlich sind dies spannende Fragen: Sind Erzeugnisse aus ökologischen Landbau gesünder? Kann man damit die Welt ernähren? o.ä. Aber es ist ja gerade meinem religionswissenschaftlichen Zugang — meine Position ist ganz dem methodologischen Agnostizismus verpflichtet — inhärent, dass ich solche Fragen in meiner Arbeit nicht beantworten kann und will. Das heißt aber nicht, dass eine religionswissenschaftliche Expertise bei der Behandlung solcher Fragen in interdisziplinären Zusammenhängen nicht förderlich sein könnte, beispielsweise hinsichtlich der Reflexion über die Beantwortbarkeit oder die Funktion solcher Fragen nach der Wirksamkeit in bestimmten Kontexten. Sie dominieren aber häufig den Diskurs und es gibt Experten und Gegen-Experten, die gegensätzliche Ansichten vertreten und popularisieren. Es gibt verschiedene Interessenlagen und ‑gruppen, es gibt Lobbyismus, zivilgesellschaftliches Engagement usw. Aber gerade die sich dabei zeigenden antagonistischen Konstellationen sowie ihre Veränderungen und ihre soziokulturellen Auswirkungen interessieren mich religionswissenschaftlich in systematischer Absicht.
Ich will erklären, was mit der Frage aus meinem Kapitel eigentlich gemeint ist: Nämlich ob der Alternativer Landbau in seiner Geschichte, d.h. genaugenommen also verschiedene Landbau-Systeme und ‑Schulen, schon immer „ökologische“ Landwirtschaft im heutigen Verständnis darstellte, was ich verneine. Der Alternative Landbau transformierte sich nach meinen Befunden erst im Verlauf der 1980er Jahre zum Ökologischen Landbau als einer wissenschaftlich institutionalisierten und schließlich auch rechtlich anerkannten Bewirtschaftungsweise. Damit einher ging ein Wandel der Begriffe, ihrer Bedeutungen und Funktionen. Den Begriff Alternativer Landbau — wie auch und überhaupt den Begriff der Alternativen Ernährung — habe ich aus der Objektsprache übernommen. Ich benutze sie wegen ihrer relationalen Funktion (abweichend von den entsprechenden Vorstellungen und Praktiken der Mehrheit) als metasprachliche Oberbegriffe (wobei ich meinen Untersuchungsbereich natürlich auf konkrete Ernährungsweisen und Landbausysteme einschränken musste). Objektsprachlich taucht der Begriff des “alternativen Landbaus” erst mit der Konjunktur der positiven Konnotation des Wortes „alternativ“ Ende der 1970er Jahre auf. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland de facto nur zwei von den Prinzipien der konventionellen chemisch-technischen Intensivlandwirtschaft (d.h. zugespitzt: “Wachsen oder weichen” in Bezug auf Betriebsgröße und Produktivität sowie “viel hilft viel” in Bezug auf Dünger und Pestizide) abweichende und organisierte Wirtschaftsweisen: Den biologisch-dynamischen Landbau (Steiner) und den biologisch-organischen (Müller/Rusch), wobei letzterer sich erst Anfang der 1970er von der Schweiz aus in Deutschland zu verbreiten begann (übrigens zunächst durch pietistisch geprägte Landwirte, die bereits biodynamisch wirtschafteten, mit den anthroposophisch inspirierten Praktiken und deren weltanschaulichem Hintergrund aber ihre Probleme hatten). Erst Ende der 1980er Jahre – im Zusammenhang mit der gesellschaftliche Aufwertung des Alternativen Landbaus, die Ausdruck in der zunehmenden Nachfrage nach Erzeugnissen aus alternativer Produktion und den steigenden Umsätzen der Naturkosthandels, der sich zur Biobranche professionalisierte, fand – wurde der Begriff „ökologischer Landbau“ nun programmatisch gefordert. Mit der breiteren Problematisierung von Umweltschäden und Kosten durch die in erheblichen Maße subventionierte konventionelle Landwirtschaft, kam es auch zu seiner (agrar-)wissenschaftlichen und politischen Anerkennung und Aufwertung, die sich europaweit in der ersten EU-Öko-Verordnung von 1991 niederschlug. Dies vollzog sich im Rahmen eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels, der sogenannten “Ökologischen Revolution”. Seitdem hat die Bezeichnung “ökologisch” in vielerlei Kontexten die übertragene Bedeutung des ‘Guten’ und ‘Richtigen’ angenommen. In der Folge wurde „Ökologischer Landbau“ zum Oberbegriff erhoben, fand schnell Eingang in die Administrations- und Alltagssprache und wird seitdem auch retrospektiv auf die alternativen Landbausysteme der vor-ökologischen Ära angewendet.
Aus meiner Perspektive ist das aber nicht treffend, weil die Dimension der Ökologie, wie wir sie heute denken, damals völlig unbekannt war. Außerdem suggeriert dies eine Kohärenz und Kontinuität, die ich so nicht vorfinden kann: Die Lebensreformer entwickelten beispielsweise zunächst Ideen einer tierfreien Landwirtschaft, die später ausgegrenzt wurden (und erst seit den 1990er Jahren im Konzept der bio-veganen Landwirtschaft wieder auftauchen). Selbstverständlich sollte mineralischer Dünger die entzogenen Nährstoffe ersetzen und kein organischer — wie er ja nur durch Tierhaltung anfällt. Der mineralische Dünger wurde erst später problematisiert, nicht zuletzt auch wegen seiner Herkunft, denn er musste importiert werden. Hier mischten sich u.a. zivilisationskritische Degenerationsbefürchtungen mit völkischen Sorgen um die Bodengesundheit sowie mit wirtschaftspolitischen und militärstrategischen Reflexionen über die Abhängigkeit von Importen. Mit der Möglichkeit der synthetischen Stickstoffgewinnung zur Düngerherstellung festigte sich die Hegemonialstellung der Agrikulturchemie als Leitwissenschaft und es entstand eine wechselseitige Interessenvermischung von wissenschaftlicher Forschung und Düngemittelwirtschaft. Dabei kam es zu einer Ausgrenzung biologischer Ansätze und Wissens aus der Agrarwissenschaft (etwa der Bodenbakteriologie) die zum Teil ihren Hort für lange Zeit im Alternativen Landbau fanden (wodurch nun die Entgegensetzung von ‚natürlich‘ und ‚nicht-natürlich‘ mit der von ‚biologisch‘ und ‚chemisch‘ assoziiert wurde). Auch Siedlungs- und Selbstversorgungskonzepte, die immer mal wieder zentral waren, konnten sich nicht dauerhaft durchsetzen. Und erst mit dem Auftauchen bestimmter neuer ‚konventioneller‘ Technologien, wurden diese auch abgelehnt – der Pestizideinsatz in den 1960er Jahren und die Gentechnik in den 1990er Jahren.
Aus einer Perspektive einer sozialistisch motivierten und vor allem strukturell versierten Kritik des Wirtschaftssystems bzw. der “kapitalistischen Produktionsweise” erscheinen manche Konzepte alternativer Ernährung sozusagen am Problem vorbeientwickelt, sie rührten die Produktionsweise gerade nicht grundlegend an, höchstens in der Weise, dass Technikfeindlichkeit, antielitaristische Monopolistenschelte sowie Idyllisierung von Subsistenzwirtschaft und symbolisch des Kleingärtners eher regressive, vorbürgerliche Formen von Herr-Knecht-Verhältnissen begünstigen. Und auf der anderen Seite, selbst wenn nicht nur im Westen alle Fahrrad fahren und ohne Plastik einkaufen würden, würde wiederum doch nur etwas Zeit eingekauft. Wie gehen die von dir untersuchten Szenen mit solchen Einwänden um?
Diese Frage kann ich nicht wirklich gut beantworten. Da müsste man tatsächlich noch mal nachschauen. Es handelt sich ja quasi um ‘theologische’ Debatten im untersuchten Feld. Ich vermute allerdings, dass solche Anfragen in den meisten Fällen einfach ignoriert werden. Denn auch umgekehrt erscheint aus Sicht mancher Konzepte Alternativer Ernährung die Kapitalismuskritik am eigentlichen Problem vorbeigehend. Spannend dürfte es dort sein, wo gemeinsame – ideologische oder soziale – Schnittmengen existieren. So gab es beispielsweise sozialistische Organisationen mit vegetarischen Prinzipien wie den „Internationalen sozialistischen Kampfbund“ (sogar aktiv im Widerstand gegen Nationalsozialismus), der der frühen Tierrechtsbewegung zuzurechnen ist. Der Fleischverzehr wurde konsequent aus ‚sozialistischer‘ Perspektive als Praktik der „Ausbeutung“ abgelehnt. Im linksalternativen Milieu nach 1968 waren kapitalismuskritische Positionen vorherrschend und fanden über die Konsumkritik auch mit Alternativer Ernährung zusammen. Noch Mitte der 1980er Jahre wurde in der Naturkostbranche die Vereinbarkeit von kapitalistischem System und Ökologie ausgeschlossen. Zeitgleich mit dem Zerfall des Alternativen Milieus und schließlich dem Ende des Kalten Kriegs verloren kapitalismuskritische Positionen generell an Bedeutung und Plausibilität. Die Naturkost- transformierte sich zur Bio-Branche (aus „Unterlassern wurden Unternehmer“), Konsumkritik wurde zum kritischen Konsum, Ökonomie und Ökologie schließen sich nicht mehr aus. Hingegen findet sich in der modernen Tierrechtsbewegung Kapitalismuskritik und Ernährung als ‚politischer Veganismus‘ eng verzahnt.
Wie sähe denn umgekehrt die Kritik an der „Kapitalismuskritik“ aus? Warum geht letztere aus der Perspektive Alternativer Ernährung nicht weit genug?
Ich kann da jetzt nicht viel zu sagen. Ich wollte nur auf die Schwerpunktsetzung hinweisen. Stellen wir uns beispielsweise eine – ich sage mal diffus ‚spirituelle‘ – alternative Ernährungsweise vor, die das Elend der Welt aus dem Verhalten der Menschen herleitet und die Umkehr zum ‚Heil‘ in der ‚richtigen‘ Ernährungsweise erblickt. Wir bewegen uns aber hier spekulativ in einem philosophischen Bereich. „Kritik an der Kapitalismuskritik“ finde ich zudem nicht treffend. Wie gesagt, war die Kapitalismuskritik im Zusammenhang mit Alternativer Ernährung häufig anfangs lauter als später, sie sind aber auch keinesfalls notwendig miteinander verbunden. Prinzipiell geht es aber wohl eher um die grundsätzliche Frage, auf welchem Weg tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen überhaupt umgesetzt werden können oder sollen: Schnelle ‚Revolution‘ oder eher langsame ‚Reform‘? Typische Konzepte Alternativer Ernährung denken größere Zusammenhänge wünschenswerter gesellschaftlicher Veränderungen vom Individuum her: das klassische Motto der Lebensreformbewegung lautete „Gesellschaftsreform durch Selbstreform“.
In meinem Untersuchungsbereich finden sich nonkonforme Innovationen wie die Alternative Ernährung typischerweise in Verbindung mit weiteren nonkonformen Vorstellungen und Praktiken der Ablehnung oder Infragestellung bestimmter hegemonialer Bereiche: Fleisch, Kirche, politisches und wirtschaftliches System etc. Entsprechend finden sich vielfältige und heterogene „alternative“ Gegenentwürfe, die sich in spezifischen, von mir als nonkonformen Milieus bezeichneten Sozialzusammenhängen durch „multiple Devianzen“ (Heinz Mürmel) der zugehörigen Akteure konzentrieren. Wahrscheinlich nicht zufällig tauchen sie an zwei Zeitpunkten (nach 1848 und nach 1968) auf, die von manchen Zeitgenossen und später von Historikern mit einem ‚Scheitern‘ von Revolutionen in Zusammenhang gebracht wurden. Anfang der 1970er wurde die Ablehnung von revolutionärem Aktivismus und die praktische Hinwendung zur eigenen Lebensführung – beispielsweise in selbstversorgenden Landkommunen und alternativen Lebensformen – journalistisch und kulturhistorisch als „apolitische“ oder „bürgerliche Flucht“ gedeutet und mit der Lebensreform- und Jugendbewegung um 1900 parallelisiert (Spiegel-Artikel von 1971, Frecot et al. 1972: “Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen” etc.). Man könnte diese Entwicklungen mit gleichem Recht aber auch als bewusste Strategieänderungen deuten. Dort, wo nach aktiven Versuchen die erstrebten Veränderungen im Großen nicht zu erreichen waren, besann man sich Veränderungen im Kleinen und hegte Hoffnungen auf langfristige Auswirkungen: Hier – bei der eigenen Lebensführung bzw. der Arbeit am Selbst – konnte direkt und praktisch begonnen und Vorbildwirkung entfaltet werden.
Du betrachtest die alternativen Ernährungskonzepte, als ob sie Religionen seien. Das geschieht allerdings in einer Situation, wo „Religionshaftigkeit“ als polemische Figur die Kritik an ihnen dominiert. Dabei geht es ja nicht um einen vollständigen Diskurs der Ernährung, im Mittelpunkt stehen die Diskurse um bzw. die Werke und Zeugnisse im konkreten Kontext alternativer Konzepte. Daneben gibt es ja nicht nur „Wachsen heißt weichen“ oder „Viel hilft viel“. Oder könnte es sogar sein, dass ein Ernährungsratgeber immer „alternativ“ ist? Was lässt sich über sein Gegenteil aussagen?
Nein, ich betrachte des gesamten Ernährungskomplex, das heißt ernährungsbezogene Vorstellungen und Praktiken des Konsums, das Ernährungssystem (Produktion, Verarbeitung, Distribution, Entsorgung) uns seine Einbindung in Wirtschaft, Wissenschaft und Staat so, als ob es sich um ‚Religion‘ handeln würde. Aus dieser Perspektive erscheint zum Beispiel Fleischverzicht als eine ‚Heterodoxie‘, so dass sich nun erst erahnen lässt, was denn eigentlich die ‚Orthodoxie‘ darstellt: U.a. nämlich die Gesamtheit der nicht hinterfragten, weil ‚selbstverständlichen‘ Ernährungspraktiken und ‑vorstellungen. Dies zeigen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die starken Reaktionen auf eine Handvoll von Leuten, die öffentlich behaupteten, man könne auf den Konsum von Fleisch zu verzichten, ohne zu verhungern. Mehr noch: Es sei zudem moralisch geboten und obendrein gesünder. Diese Reaktionen, etwa in Form von diffusen Sanktionen wie Spott oder Geringschätzung, aber auch in Form von mehr oder weniger ernsthaften ernährungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit führenden Vertretern der Wissenschaft, machten die hegemoniale „Fleischreligion des 19. Jahrhunderts“ (Albert Wirz) überhaupt erst sichtbar.
Allerdings ist die quantitative Verbreitung bestimmter kultureller Vorstellungen und Praktiken nicht gleichzusetzen mit ihrem eher qualitativen Status im Ensemble kultureller Hegemonien im sozialen Raum: Zwar war der Fleischverzicht zunächst nonkonform, jedoch zeigt sich aus historischer Perspektive, dass Alternative Ernährung selbst dies nicht notwendigerweise sein muss. Bereits vor dem 2. Weltkrieg näherten sich ernährungsreformerische Forderungen und ernährungswissenschaftliche Empfehlungen aneinander an. Mit dem steigenden Wohlstand und den Veränderungen des Ernährungssystems sowie dem Konsumverhalten seit den 1950er Jahren, kann man die hegemonialen administrativen Ernährungsempfehlungen – streng relational bezogen auf das Ernährungsverhalten der Mehrheit der Bevölkerung – tatsächlich als „alternative“ Ernährungsweise ansehen: Sie entsprechen dabei im Groben nahezu den Richtlinien der „Vollwerternährung“ — was wiederum auch kein Zufall ist, da zudem historische Beziehungen und Kontinuitäten insbesondere durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) existieren. Regelmäßig muss dann festgestellt werden, dass offensichtlich kein Erfolg der Bemühungen zu konstatieren ist, das konventionelle und mittlerweile nicht mehr als wünschenswert erachtete Ernährungsverhalten der Bevölkerung zu verändern.
Hier zeigt sich aber deutlich die kulturelle Dynamik der Alternativen Ernährung: das heißt jene Prozesse der kulturellen Transfers und Transformationen, durch die vormalig nonkonforme Vorstellungen und Praktiken sich ausbreiten, vor allem aber anerkannten und bisweilen sogar hegemonialen Status in einer Gesellschaft erlangen können. Dabei zeigte sich aus relationaler Perspektive, dass die Alternative Ernährung ihren soziokulturellen Status gegenüber dem hegemonialen Ernährungssystem verändert hat: Sie transformierte sich von einer innovativen und nonkonformen ‚Alternative‘ zu einer alternativen ‚Option‘ im Pluralismus einer sich zunehmend diversifizierenden Ernährungskultur und trug gleichzeitig aktiv zu dieser Pluralisierung bei.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.