REMID
Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Der georgische Ministerpräsident Irakli Kobakhidze stellte am 16. Oktober 2025 das erwartete Konzept für eine Hochschulreform vor. Kritiker_innen äußerten daraufhin Besorgnis über mögliche Säuberungen an staatlichen Universitäten und das Risiko, dass das neue System die internationalen Studienmöglichkeiten für georgische Studierenden beeinträchtigen könnte. Zu den angekündigten Plänen gehören die „Dezentralisierung‘‘ der Hochschulbildung aus der überfüllten Hauptstadt, die Einführung des Prinzips „eine Stadt — eine Fakultät”, wonach durch einen „Reorganisationsprozess” nur noch eine Fakultät pro staatlicher Universität in jeder Stadt verbleiben würde, sowie die Verkürzung der Schulzeit von derzeit 12 auf 11 Jahre und die Umwandlung des bestehenden 4+2‑Modells für Bachelor- und Masterstudiengänge in ein 3+1‑System. Kobakhidze sagte, das Konzept der Universitätsreform werde zunächst von der „Regierungskommission“ und dann nach öffentlichen Diskussionen von der Regierung selbst verabschiedet.1
Der Plan wurde jedoch nicht mit der Universitätsgemeinschaft und den Vertreter_innen des Bildungssektors diskutiert. Deswegen lösten die Ankündigungen von Kobakhidze bei vielen Kritiker_innen, unter anderem, Wissenschaftler_innen, Besorgnis aus, insbesondere hinsichtlich des Prinzips „eine Stadt — eine Fakultät“, da befürchtet wird, dass eine solche „Umstrukturierung“ wie während der sowjetischen Besatzung, im öffentlichen Dienst dazu genutzt werden könnte, Universitäten von Wissenschaftler_innen zu säubern, die der Regierungspartei kritisch gegenüberstehen.
Der „Reformplan“ zur Bewältigung bestehender Herausforderungen im Bildungswesen ist verfassungswidrig, da er den in der georgischen Verfassung garantierten Prinzipien der akademischen Freiheit und institutionellen Autonomie widerspricht. Die Umsetzung dieses Plans hätte katastrophale Folgen für die Hochschulbildung. Sie würde die Qualität von Lehre und Forschung massiv beeinträchtigen, die Stellung und Rolle der Universitäten in der Gesellschaft schwächen und Georgien von der internationalen akademischen Gemeinschaft isolieren.
Besonders betroffen sind interdisziplinäre Fächer wie zum Beispiel die Religionswissenschaft.
REMID möchte das Fach unterstützen und georgischen Wissenschaftler_innen die Möglichkeit geben, über Ihre Situation zu berichten. Im Interview mit REMID erklärt die Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Sophie Zviadadze von der Ilia State University in Tiflis, Georgien, warum ihr Fach von dieser Entwicklung besonders betroffen ist:

Sophie Zviadadze ist Dr., Associate Professor an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften und Leiterin des Masterstudiengangs Religionswissenschaft an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi. Im Jahr 2007 erwarb sie einen Master-Abschluss in Politikwissenschaft, Soziologie und Religionswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Jahr 2014 promovierte sie in Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Politik und Religion, die Wechselbeziehungen zwischen Religion, Nationalismus und kollektivem Gedächtnis. Sie untersucht außerdem die Solidaritätspraktiken und die urbane Lebensweise in postsowjetischen peripheren Städten Georgiens
Frau Prof. Dr. Zviadadze, wie beurteilen Sie die geplante Hochschulreform der georgischen Regierung, und weshalb sehen Sie darin eine besondere Gefahr für die Autonomie der Universitäten?
Georgien befindet sich heute in einer sehr ernsten politischen Krise. Die wichtigsten politischen und öffentlichen Angelegenheiten stehen im Zusammenhang mit dieser Krise, der Protestbewegung und der Befürchtung, dass das Land auf dem Weg zur Entdemokratisierung ist und seine demokratischen Institutionen und Prozesse verliert. Der Staat sagt dies nun offen. Gerade vor dem Hintergrund der Krise müssen wir auch diese Bildungsreform betrachten, die auf den ersten Blick für manche Professor_innen attraktiv erscheint.2 Im Gegenzug könnten diese sogenannten Reformen jedoch zum Zusammenbruch des Universitätssystems und zum Verschwinden einer ganzen Reihe von Fachbereichen führen. Die Bildungsreform wurde erstmals während der Proteste gegen das sogenannte russische Gesetz angesprochen.3
Damals sagte der Ministerpräsident, dass es Professor_innen an den staatlichen Universitäten gebe, die dort nicht sein sollten. Auch junge Menschen wurden als gefährliche Gruppe in der Gesellschaft erklärt. Genau zu dieser Zeit wurde eine Bildungsreform und die Lösung dieser Probleme angekündigt.
Nun ist fast ein Jahr vergangen und wir hören ständig, dass eine Bildungsreform bevorstehe. Vor einigen Tagen wurde diese Information veröffentlicht, die jedoch sehr knapp gehalten ist. Es handelt sich nicht um ein detailliertes Projekt oder einen Plan, sondern lediglich um eine oberflächliche Darstellung. Die politischen Ziele sind jedoch erkennbar. Aus den angekündigten Reformen geht klar hervor, dass junge Georgier_innen insgesamt drei Jahre weniger studieren sollen. Sie sollen weniger Jahre in der Schule und an der Universität verbringen, wodurch sich ihr Wissensstand verringern wird. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem die heutige Welt viel mehr Wissen erfordert. Die Menschen benötigen heute mehr denn je neue Fähigkeiten und Kenntnisse.
Eine weitere große Änderung ist, dass es nur noch eine Fakultät pro Universität geben soll. Mit anderen Worten: Eine Universität kann beispielsweise nicht gleichzeitig juristische und soziologische Fakultät anbieten. Es wird also in Zukunft keine Konkurrenz geben, die derzeit Lehrqualität erhöht und den Universitäten die Autonomie gibt, ihre Prioritäten selbst zu setzen. In diesem Fall ist die politische Dimension sehr bedeutend. Es stellt sich die Frage, wer über diese Angelegenheit entscheidet. Die Entscheidung wird nicht von Bildungsexpert_innen, sondern von Politiker_innen getroffen. Kein Entscheidungsträger hat sich mit Expert_innen aus dem Bildungsbereich oder mit den Universitäten beraten. All dies erinnert an die Zeit des sowjetischen Regimes, als von oben entschieden wurde, wie viele Fakultäten es geben sollte und wie viele Studierende zugelassen werden sollten. Das ist völlig unvorstellbar und entspricht nicht den heutigen Vorstellungen davon, wie der Bildungssektor aussehen sollte.
Aus diesem Grund haben wir, die Vertreter_innen der Akademie, eine Erklärung zu diesem Thema verfasst.4 Ich finde es alarmierend, dass diese Reform gegen die Autonomie der Universitäten gerichtet ist. Tatsächlich wird der Ministerpräsident entscheiden, wie viele Fakultäten es geben soll, welche Fächer wo unterrichtet werden sollen und wie viele Studienjahre ein bestimmtes Fach umfassen soll. Dies widerspricht der Verfassung Georgiens und dem Bologna-Prozess. Wir haben den Eindruck, dass es hier schlicht darum geht, die Universitäten zu unterwerfen und die Wissenschaft zu kontrollieren. Wer sich dieser Reform widersetzt, wird von der Universität ausgeschlossen. Wer Fachwissen und international anerkannte Standards einbringt, wird kein Recht haben, an diesem Prozess teilzunehmen. Durch eine solch radikale Veränderung werden wir auch nicht mehr Mitglied des Bologna-Prozesses sein. Dies ähnelt dem sich seit Längerem entwickelnden Prozess in Russland, der 2026 zum Austritt Russlands aus dem Bologna-Prozess führen wird. Es würde uns nicht überraschen, wenn genau das das Ziel dieses Prozesses wäre. Georgische Studierende werden mit vielen Hindernissen konfrontiert sein, wenn sie ihr Wissen an internationale Standards anpassen wollen.

Im Vordergrund rechts: Prof. Dr. Ketevan Gurchiani, Professorin für Anthropologie und Leiterin des Research Center for Anthropology an der Ilia State University; Zweiter von rechts: Prof. Dr. Irakli Pipia, Professor für Anthropologie an der Staatlichen Medizinischen Universität Tiflis; Dritter von rechts: Luka Kuchukhidze (M.A.), Promovend in Philosophie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Savle Tsereteli Institute of Philosophy (Ilia State University); Oben rechts: Dr. Lela Chakhaia, Bildungsexpertin.
„Eine Stadt – eine Fakultät“: Bedeutet die Einführung dieses Prinzips, dass die Universität aufhören wird zu existieren?
Ja. Die Idee einer Universität besteht schließlich darin, dass verschiedene Fachrichtungen unter einem Dach gelehrt werden. Genau diese Idee wird zerstört. Vielleicht bleibt nur die Staatliche Universität Tiflis übrig, die die größte Tradition hat und diesen Status behalten wird. Alle anderen Universitäten werden radikal umstrukturiert. Wir können sie nicht mehr als Universitäten bezeichnen. Sie werden zu spezialisierten Instituten. Dies stellt die größte Gefahr für die Interdisziplinarität dar, insbesondere für unseren Fachbereich.
Die nächste Frage bezieht sich genau auf dieses Thema, da die Religionswissenschaft eine interdisziplinär arbeitende Wissenschaft ist. Welche Gefahr bringt dies für unser Fachgebiet?
Im Gegensatz zu europäischen Ländern hat die Religionswissenschaft in Georgien keine lange Geschichte. In Deutschland und anderen Ländern hat sich die Religionswissenschaft aus anderen Fächern entwickelt. In einigen Fällen war dies die Theologie oder die Geschichte, in anderen die Orientalistik. Sie hat also traditionelle Disziplinen als Vorläufer. In Georgien ist der Kontext jedoch anders und einzigartig: Schon seit der Gründung bestand unser Ziel darin, interdisziplinär zu sein, und von Anfang an ging es um die wissenschaftliche Erforschung der Religion. Mit anderen Worten gehört sie keiner bestimmten Disziplin an. Diese Interdisziplinarität ist ihre Stärke.
Die Fakultät für Religionswissenschaft wurde gegründet, um eine unparteiische, konfessionsunabhängige und akademische Erforschung der Religion zu ermöglichen. Unser Masterstudiengang existiert seit 2016 an der Ilia-Universität in Tiflis und ist in ganz Georgien einzigartig. Die Studiengänge Sozial- und Kulturanthropologie, Orientalistik und Sozialwissenschaften an. Gerade durch die Zusammenarbeit mit diesen können wir unsere Interdisziplinarität aufrechterhalten und sicherstellen, dass der Studiengang ein vielfältiges Kursangebot hat. Außerdem ist die Religionswissenschaft sehr beliebt an unserer Universität. Als Masterstudiengang gehört er zu den fünf gefragtesten Studiengängen der Ilia-¬Uni und hat einen sehr hohen Lehrstandard.
Wenn die geplante Reform umgesetzt wird, Universitäten nur noch ein Fach anbieten dürfen bedeutet dies, dass wir auch unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen verlieren werden, was angesichts der Natur des Fachgebiets besonders kritisch ist. Dies betrifft nicht nur die Religionswissenschaft, sondern beispielsweise auch die Deutschlandskunde an der Ilia Universität. Die Religionswissenschaft ist jedoch in besonderer Weise bedroht, denn es kommt ein zweiter, öffentlicher, politischer Faktor hinzu: Aufgrund ihrer Natur kann sie nicht als Programm für das derzeitige politische Regime dienen, an dessen Aufrechterhaltung der Staat interessiert wäre. Die Regierungspartei vertritt eine rechts-populistische politische Ideologie und nutzt die traditionelle Religion, das orthodoxe Christentum, sowie „die Verteidigung“ der georgischen orthodoxen Kirche, um ihre Politik voranzutreiben. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass die Regierung die Religionswissenschaft, wie auch die gesamte Universität, die als säkular und europäisch kennzeichnet ist, mit der neuen politischen Agenda nicht vereinbar scheint. Im Gegenteil, sie könnte sogar zur Zielscheibe werden. Mit anderen Worten: Die Reform wird sich nicht nur auf das Programm auswirken, sondern die Regierung wird auch daran interessiert sein, es abzuschaffen. Und das, obwohl das Programm sehr gefragt ist und derzeit die Grundlagen für einen zukünftigen Bachelor-Studiengang in Religionswissenschaft geschaffen werden. Es wäre sehr bedauerlich, unser Programm in dieser Phase zu stoppen. Dieses Programm hat neben der Vermittlung akademischer Bildung und der Wissensproduktion auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Es dient der kritischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit religiösen Fragen und fördert die Entwicklung eines weltanschaulichen Pluralismus sowie einer Kultur der Toleranz. Die Beendigung des Bestehens des Programms und die Unterbrechung dieser neuen Tradition hätte nicht nur negative Folgen für die Wissenschaft, sondern für die georgische Gesellschaft allgemein.
Wir schätzen jede Form der Unterstützung, sei es die Verbreitung von Informationen, der Austausch von Erfahrungen oder, vor allem, die Fortsetzung und Verstärkung der Zusammenarbeit mit der Ilia-Universität in dieser schwierigen Zeit.
Kontakt: sopiko.zviadadze@iliauni.edu.ge

Das Interview führte Luka Kitia am 20.10.2025 im Rahmen seines Praktikums bei REMID e.V.
Weitere Informationen:
- Civil Georgia. (2025a, October 17). Kobakhidze unveils university reform concepts as critics worry about repression. Civil Georgia. https://civil.ge/archives/707094 ↩︎
- da sie unter anderem eine erhebliche Gehaltserhöhung mit sich bringt ↩︎
- Das in Russland seit 2012 geltende „Gesetz über ausländische Agenten“ (Закон об иностранных агентах) diente als Vorbild für das georgische Gesetz zur „Transparenz ausländischer Einflussnahme“. Es verpflichtet Organisationen, Medien und Einzelpersonen in Russland, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten oder unter „ausländischem Einfluss“ stehen, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Alle Publikationen und Online-Inhalte müssen mit einem sichtbaren Hinweis versehen werden. In der Praxis nutzen die russischen Behörden das Gesetz, um regierungskritische NGOs, unabhängige Medien und Kulturschaffende zu stigmatisieren und ihre Tätigkeit massiv einzuschränken. Kritiker_innen in Georgien sehen darin ein autoritäres Kontrollinstrument, das der Regierung ermöglicht, ähnlich wie im russischen Modell, unliebsame Stimmen im öffentlichen Diskurs zu marginalisieren und den Einfluss der Zivilgesellschaft zu schwächen. Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung. (2024, June 18). Georgien: Das Gesetz zur Transparenz ausländischer Einflussnahme. bpb.de; Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/549527/georgien-das-gesetz-zur-transparenz-auslaendischer-einflussnahme/ ↩︎
- Link zur Erklärung: https://iliauni.edu.ge/en/siaxleebi‑8/axali-ambebi-36/stand-for-and-defend-the-university.page ↩︎
- Der Ministerpräsident hat außerdem vorgeschlagen, das Hauptgebäude der Ilia State University zu verkaufen, da es sich in einem der zentralsten und teuersten Viertel der Hauptstadt befindet. Dies würde, so argumentierte er, mehr wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen. Er bot an, außerhalb der Stadt neue, renovierte Gebäude bereitzustellen. Genau dagegen protestierte die Studierendenbewegung der Ilia-Uni mit diesem Banner. ↩︎




