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Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V.
Ein kultursoziologischer Blick in die Anfangszeit der modernen Theosophie (1873–1878)
Isis Unveiled (dt. Isis entschleiert) ist Helena P. Blavatskys erstes Hauptwerk der Theosophie—eine breit angelegte Kritik an zeitgenössischer Wissenschaft und Theologie im Namen „alter Weisheit“—und gilt als Grundtext der theosophischen Bewegung mit nachhaltigem Einfluss auf die moderne westliche Esoterik.
Das Buch erschien 1877 als erste Publikation der Theosophical Society in New York.1 Auf über 1300 Seiten wurden gängige esoterische Ansätze aus unterschiedlichen spirituellen und mystischen Quellen zusammengeführt und verknüpft. Das Buch war schlecht lektoriert, die Quellenlage unübersichtlich und akademisch nicht zu gebrauchen. Trotz Polemik gegen Theologie, Naturwissenschaften und den Spiritismus2 wurde es zum Bestseller und erschien bis heute in immer neuen Auflagen. Wie war das möglich? Warum ist es nicht in den Tiefen der Archive verschwunden? Und welche Umstände führten zur Erschaffung dieses Werkes?
Um diese Fragen geht es in meiner Bachelor-Arbeit, da ich verstehen wollte, wie Religionsgeschichte bzw. die Ideengeschichte von Religionen sich in konkreten Handlungen entwickelt. Im Nachhinein kann man immer behaupten, dass “die Zeit für etwas reif gewesen” sei. Dennoch braucht es zu diesem konkreten Zeitpunkt Menschen, die diese Schritte gehen, die Gedanken in Worte fassen und Ideen eine Form geben. Sie haben eine Motivation und vielleicht auch eine Zielvorstellung, aber ganz konkret können sie nicht wissen, was sich im Lauf der Zeit aus ihrer Aktion entfalten würde. Wie bin ich also vorgegangen?
SpielerInnen im Feld – ein kultursoziologischer Ansatz3
Da Bücher immer auch in die Gesellschaft und Kultur ihrer Zeit eingebettet sind, habe ich mich für einen systemischen Blick entschieden, denn die jeweiligen AutorInnen stehen in sozialen Netzwerken und Beziehungen. Sie bringen ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und Motivationen in die Erschaffung des Werkes ein und auch die Verlage und das Publikum sind für die Entstehung und Resonanz eines Buches entscheidend.
Um diese Dynamiken besser erforschen zu können, verwendete ich für die Analyse den Ansatz von Bourdieu für die Analyse zu nutzen. Dieser betrachtet einen definierten Bezugsraum als ein Spielfeld, auf dem die AkteurInnen nach bestimmten Regeln ihr Ziel verfolgen.4 Dabei gibt es Fähigkeiten, die in dem Spiel besonders von Vorteil sind, oder Material, das gewinnbringend eingesetzt werden kann. In der Regel stehen die SpielerInnen im Wettstreit miteinander und es gilt, möglichst viele Spielanteile zu erlangen und den Einflussbereich auszudehnen. In der Gesellschaft gibt es zeitgleich immer viele verschiedene Bezugsräume, die sich überlagern, und in denen sich Menschen bewegen. Das heißt, es laufen gleichzeitig mehrere Spiele ab und die SpielerInnen sind zeitgleich in mehreren Spielen involviert. Dabei sind für sie unterschiedliche Regelsysteme relevant, in denen verschiedene Fähigkeiten von Vorteil sein können. Über jeden einzelnen Menschen kann Material oder Wissen von einem Bezugsraum in einen anderen eingebracht werden. Es ist also sehr dynamisch und komplex.
In unserem Fall betrachten wir das religiöse Feld im historischen New York 1873 – 1878 als Spielfeld. In diesem Feld gibt es unterschiedliche AkteurInnen, die um Einflussbereiche und Deutungshoheit ringen. Dabei können die „Spieler“ Einzelpersonen sein, aber auch Organisationen oder (indirekt) Objekte. Alle Akteure interagieren dynamisch miteinander und beeinflussen das Gesamtfeld schon allein durch ihre Präsenz, weil andere sich dazu positionieren müssen.
Abbildung 1 zeigt schematisch fünf Bereiche im religiösen Feld, denen Gruppenakteure zugeordnet werden können, die unterschiedliche Formen der Organisation und spirituellen Leitungsstruktur aufweisen. Diese Institutionen oder Gruppierungen versuchen nun mehr oder weniger aktiv Mitglieder anzuwerben und ihren Einflussbereich zu erweitern. Jeder neue „Mitspieler“ bietet eine weitere Alternative und bedeutet potentiell Verlust von Einfluss.

Neben den Regeln des Spiels und den Fähigkeiten der Akteure gibt es noch „Material“, das ein erfolgreiches Agieren im Feld ermöglichen kann. Bourdieu beschreibt dies mit verschiedenen Kapitalsorten, die Gestaltungsmöglichkeit bedeuten und die die Akteure im Feld einsetzen können.6 Im religiösen Feld ist vor allem das sogenannte symbolische Kapital relevant, da es z. B. Glaubwürdigkeit bedeutet und damit Deutungshoheit und Einflussnahme vermehren kann. Doch auch wirtschaftliches und soziales Kapital sind wichtige Komponenten bei der Erschaffung eines Buches.
Blavatsky und ihr Netzwerk
Um mehr über die Entstehung und Verbreitung des Buches zu erfahren, ist es sinnvoll, sich die Menschen, die an der Herstellung maßgeblich beteiligt waren, anzuschauen: Was waren ihre Motivationen und Fähigkeiten, welches Kapital brachten sie ein?


Hauptakteurin in der Entstehung von Isis Unveiled war Helena Petrovna Blavatsky (1830–1891), eine weitgereiste russische Adelige, die 1873 in New York mittellos strandete und sich eine neue Existenz aufbauen musste.7 Um als spiritistisches Medium eine zahlungskräftige Klientel zu erreichen, versuchte sie über die Presse in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden. Bei einer Seance in Rochester, NY State, traf sie Henry Steel Olcott (1832–1907), einen vielseitig interessierten und talentierten Menschen, der in seinem Lebenslauf jeden Beruf kompetent und erfolgreich ausübte8. Die beiden entwickelten eine lebenslange Teamarbeit, in der Olcott vorwiegend für die praktischen, organisatorischen und finanziellen Belange, Blavatsky für die inhaltliche und spirituelle Entwicklung zuständig war. Zurück in New York entstand um Blavatsky als Mittelpunkt ein Salon, der sich wöchentlich traf und aus dessen Mitgliedern heraus 1875 die Theosophical Society gegründet wurde.
Bereits 1874 fing Blavatsky an, ein Grundlagenwerk ihrer esoterischen Weltanschauung zu schreiben. Darin bezog sie sich sowohl auf gängige esoterische Diskurse ihrer Zeit als auch auf antike europäische und asiatische Religionen, Philosophien und Weltbilder. Sehr bald wurde Olcott ihr Co-Autor und Buchmanager. Mit James W. Bouton (1831–1902) fand er einen Verleger, der neben einem persönlichen Interesse an den Inhalten, wohl auch ein marktwirtschaftliches Potential und ein potentielles Publikum sah. Durch sein Wirken wurde das Buch mit dem wirtschaftlichen Sozialraum der Verlage verschränkt.
Über Bouton kam Alexander Wilder (1823–1908) ins Spiel. Obwohl er dem Buchprojekt anfangs skeptisch gegenüberstand, ließ er sich durch die inhaltliche Herausforderung des Lektorats und den intellektuellen Austausch mit Blavatsky faszinieren. Er bekam den Auftrag, das Manuskript zu kürzen und druckfähig zu machen. Über die intensive Zusammenarbeit mit Blavatsky und Olcott und sein eigenes Interesse am Neuplatonismus wurde er zur dritten Kraft in der Gestaltung des finalen Werkes.9


Für die Realisierung des Buches brachte Blavatsky vorwiegend symbolisches Kapital und eine charismatische Persönlichkeit mit, die Menschen faszinierte. Olcott steuerte nicht zu unterschätzendes finanzielles Kapitel bei: Ohne ihn wären der Theosophical Society keine ausreichenden Ressourcen für Versammlungen und Korrespondenz zur Verfügung gestanden. Außerdem unterstützte er Blavatsky und ermöglichte eine ungestörte Schaffensphase. In diesem Prozess wandelte sich sozusagen finanzielles Kapital in religiöses um.
New York 1873–1875 – Nährboden für alternative Religionen
Der Hintergrund für das religiöse Feld bildete die Stadtgesellschaft in New York. Sie war geprägt von einem aktiven Bürgertum, das sich in vielfältigen Societies und Clubs organisierte, in denen sich Gleichgesinnte austauschten und im Geiste der Zeit gesellschaftliche Reformprogramme anstiessen. Das Leben in New York war stark von Klassenunterschieden geprägt, die sich durch Industrialisierung, Emigrationswellen, und die Wirtschaftskrise verschärft hatten. Die Gesellschaft war durchdrungen von einem optimistischen Fortschrittsgedanken und den viktorianischen Idealen des „self-help, self-control and self-improvement“. Diese Annahme der individuellen Verbesserungs- und Entwicklungsfähigkeit führte im Bürgertum zur Wahrnehmung eines humanistischen Bildungsauftrags, die Menschheit zu erziehen und zivilisieren.
Im betrachteten Zeitraum war der amerikanische Bürgerkrieg gerade acht Jahre vorbei und die gesamte Nation noch mit der Aufarbeitung der Konsequenzen auf allen Ebenen beschäftigt. Politisch wurde um die Integration der zurückgewonnenen Staaten gerungen, gesellschaftlich mussten viele entwurzelte Menschen und ehemalige Sklaven integriert werden, und individuell hatte der Krieg für viele Menschen auf beiden Seiten Verlust und Trauer um die Gefallenen gebracht.10
Skandale und Dynamik unter den Gruppenakteuren
Als Blavatsky 1873 als unbekanntes Medium in New York ankam, gab es ein vielfältiges und dynamisches Angebot im religiösen Feld, das durch die aktuellen Diskurse über naturwissenschaftliche Entdeckungen, technischen Fortschritt, Religionsvergleiche und spiritistische Skandale geprägt war. In öffentliche Vorträge, Versammlungen und Debatten wurde informiert, gestritten und polemisiert, was in ihrer Dynamik von der Presse gerne aufgenommen wurde: Das zentrale Kommunikationsmittel der Gesellschaft war damals sowohl stadtintern als überregional und sogar weltweit die Tagespresse und Fachzeitschriften.11 Auf diesem Weg konnten sich selbst kleine Interessensgruppen über große Distanzen hinweg austauschen, diskutieren und unterstützen.12
Das religiöse Feld in New York bzw. in Nordamerika war durch seine Entstehungsgeschichte schon von Anfang an durch eine Vielfalt an religiösen Splittergruppen und neuen religiösen Bewegungen geprägt. Doch auch die etablierten Kirchen waren vertreten, die einen engen Kontakt zur Mutterkirche in Europa pflegten und teilweise weisungsgebunden waren. Mit einer starken spiritistischen Szene, die sich vor allem in lokalen Gruppen organisierte, und diversen religiös-weltanschaulichen Gruppierungen war das religiöse Feld sehr weit gesteckt. Für all diese Gruppen waren Mitglieder überlebenswichtig, um eine gemeinsame Praxis umzusetzen, wie z.B. in Gottesdiensten und Ritualen. Publikationen, RednerInnen und Räume mussten finanziert werden und bei manchen hing das Seelenheil von Missionserfolgen ab. Die Konkurrenz unter den religiösen Gruppierungen war vielfältig motiviert und stark.
In diesem Feld entstand 1875 mit der Gründung der Theosophical Society nun ein neuer Gruppenakteur, der sich erst einmal behaupten musste:13

Die Mitglieder stammten vorwiegend aus der sozialen Mittelschicht, waren gebildet und an esoterischen Strömungen interessiert. Oft lies ein Gefühl der Entfremdung mit etablierten Kirchen und religiöser Doktrin sie nach Alternativen suchen und der Spiritismus hatte mit seinen Skandalen für viele einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit verspielt. Aus diesen Impulsen heraus entstand die Gründungsidee einer Gesellschaft, die sich dem Studium und der Erhellung des Okkulten widmen wollte, um den Spiritismus zu reformieren und eine ursprüngliche Wahrheitsreligion wieder zu entdecken.
Nach breiter öffentlicher Ankündigung gab es mehrere Sitzungen, doch die geplanten Experimente zur Erforschung spiritistischer Phänomene konnten nicht durchgeführt werden und das Interesse vieler Gründungsmitglieder schwand. Daher wurden wegen mangelnder Teilnahme die regelmäßigen Treffen im Herbst 1876 bereits wieder eingestellt. Danach war die Theosophical Society nur noch über Artikel ihrer Mitglieder und über spektakuläre Aktionen in der Öffentlichkeit präsent. Zum Beispiel organisierte sie die erste buddhistische Beerdigung und Kremation in New York und sorgte damit für Schlagzeilen und ein Spektakel für die ganze Stadt.
Ein Bestseller schlägt Wogen
In diesem Kontext erschien nun 1877 mit Isis Unveiled das erste Grundlagenwerk der Theosophical Society, das einen Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl im religiösen Feld als auch darüber hinaus bedeutete. Es hatte den Anspruch, eine uralte Weisheitsreligion zu enthüllen bzw. wiederzuentdecken, die allen Religionen zu Grunde liege. Dazu wurden aus religiösen, esoterischen, mythischen und geschichtlichen Quellen Inhalte zusammengebracht, neu verknüpft und in einer übergreifenden Weisheitslehre zusammengefasst. Durch Quellenangaben und Bezüge auf Autoritäten des religiösen Feldes wurde sowohl ein traditioneller als auch wissenschaftlicher Anspruch erhoben, der das Buch von einem Offenbarungswerk unterschied. Erst später wurden Beschreibungen über einen Schreibprozess mit Unterstützung transzendenter Meister veröffentlicht, die eine übernatürliche Wissensquelle nahe legten. Ungereimtheiten in der Struktur des Werkes waren in der Rezeption nicht abträglich, da sie in einer Logik des spirituell-religiösen Feldes auf besonders wichtiges (Geheim-)Wissen hindeuten konnten und damit das religiöse Kapital sogar steigerten.
Der komplette Titel Isis Unveiled – A Master-Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology versprach einen Generalschlüssel zu den Geheimnissen der alten und modernen Wissenschaft und Theologie. Dieser sollte über eine historisch fundierte Zusammenführung von Philosophie, Religion und Wissenschaft zu einer Enthüllung der grundlegenden Wahrheit führen. Auf der Basis von enormem Quellenmaterial stellte Blavatsky in ihrem Namen einen kosmischen Gesamtentwurf vor, der etliche Quellen als eigenes Wissen erscheinen lies. Dies führte 1891 zu handfesten Plagiatsvorwürfen, die allerdings zu einem Zeitpunkt veröffentlicht wurden, an dem das Buch bereits fest im Kanon der theosophischen Literatur und damit im religiösen Feld etabliert war.14
Reaktionen auf die Veröffentlichung
Doch zurück zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Wie reagierte der Markt bzw. wie das religiöse Feld auf Isis Unveiled? Spuren der Resonanz lassen sich in den Zeitungsarchiven finden: In der Tagespresse erschienen sehr zügig positive Rezensionen von Redaktionen, die schon im Vorfeld ein Exzerpt erhalten hatten. In ihnen wurde der Umfang und das unglaublich reichhaltige Quellenmaterial hervorgehoben, die die Autorin in den Gelehrtenstatus erhoben. Erst später erschienen auch kritische Rezensionen, die sich mit den ganzen 1300 Seiten befasst hatten.
Dennoch verkaufte sich das Buch erstaunlich gut, und innerhalb von 10 Tagen war die erste Auflage vergriffen. Dies sorgte für Schlagzeilen im Buchhandel und in der Tagespresse. Dadurch wurden sowohl wirtschaftliches als auch soziales Kapital generiert, die beide weniger mit dem Inhalt zusammenhingen als viel mehr mit Prestige und Öffentlichkeit. Wer bis jetzt noch nichts von der Theosophical Society gehört hatte, konnte nun über dieses erfolgreiche Buch auf sie aufmerksam werden. Dadurch konnte wiederum religiöses Kapital generiert werden, indem sich Ideen und Weltbild weiterverbreiteten. Den internationalen Markt betrat das Werk in England über Boutons Handelsbeziehungen zum Verlagshaus Quaritch im Dezember. Und innerhalb weniger Monate war der Titel in den Verzeichnissen vieler städtischen Bibliotheken, von Universitäten, Theologischen Seminaren und Freimaurerlogen unter den Neuzugängen zu finden.
Welchen Einfluss hatte die Veröffentlichung auf das religiöse Feld?
Für das religiöse Feld entstand mit diesem Buch ein personen- und ortsunabhängiges Objekt, das umfangreich esoterische Ideen bündelte und dem privaten Studium zugänglich machte. In diesem Format konnte es privat studiert werden bzw. gelangte an Verteilerpunkte wie öffentliche und private Bibliotheken.15 Damit wurde es substanzieller wahrgenommen als z. B. Zeitungsartikel von einzelnen AutorInnen. Über den Bereich der religiösen Ideen konnte es als Objekt nun andere Einzelakteure inspirieren und dadurch selbst als unbelebter Akteur eine strukturrelevante Wirkung im Feld entfalten.
In Abbildung 3 sind die unterschiedlichen Impulse dargestellt, die das Buch im religiösen Feld auslöste. Schon in der Konzeptions- und Herstellungsphase führte das Buchprojekt Menschen und Ideen in einer kreativen Schaffensphase physisch und intellektuell zusammen (gepunktete Linien). Das Autorenteam bestand aus Blavatsky und Olcott, ergänzt durch Wilder als Lektor. Für die physische Realisierung war zunehmend Bouton verantwortlich, der durch die Erstellung von Druckplatten das Buch und durch die Werbung das Feld vorbereitete.

Mit der Veröffentlichung des Buches entfalteten die Inhalte ihre Wirkung (gestrichelte Linien). Sie bestanden vor allem aus Kritik an der Dogmatik der etablierten Religionen, besonders der christlichen Theologie und am Spiritismus in der religiösen Szene. Mit der Kritik am naturwissenschaftlichen Weltbild reichte der Inhalt aus dem religiösen Feld hinaus in das Feld der Naturwissenschaft und Technik hinein. Aus diesem Bereich gab es interessanterweise die ausführlichsten Rezensionen, was den Inhalt betraf, im Gegensatz zu Artikeln aus dem religiösen Feld. Als Buch trug es außerdem zum Bereich der religiösen Ideen bei und war mit seinen Inhalten (Symbolik, Mythen und Mystik) auch für Freimaurerlogen von Interesse.
Nach der Veröffentlichung befassten sich EinzelakteurInnen aktiv mit dem Buch, in dem sie es kauften, lasen, rezipierten und sich darüber austauschten (solide Linien). Hierzu gehörten die Mitglieder (M) der Theosophical Society und die LeserInnen (unbenannt) aus dem öffentlichen Publikum, die sich aus Interesse, Sensationslust, auf Empfehlung oder als Suchende dem Buch zuwendeten. Die Leserschaft konstituierte sich vorwiegend aus der Mittelschicht, da die Inhalte eher in den bürgerlichen Kreisen diskutiert wurden.16 Des weiteren waren JournalistInnen (J) der Tagespresse aus beruflichen Gründen an dem Buch interessiert, die Bouton bereits im Vorfeld mit Exzerpten informiert hatte. Die Resonanz bei den RedakteurInnen ® der Fachzeitschriften war eher verhalten, da sie in der Regel als Kommunikationsplattform einer spezifischen Interessengruppe verpflichtet waren und über die Relevanz für ihr Zielpublikum entscheiden mussten und konnten. Neben einem professionellen Interesse waren hier auch oft persönliche Zu- und Abneigungen im Spiel.
Das Erfolgsgeheimnis
Der Erfolg eines Buches hängt nicht allein vom Inhalt ab. Maßgeblich sind dafür auch die äußeren Bedingungen, die sein Entstehen ermöglichen und das Feld, in dem es platziert wird. Am Beispiel von Isis Unveiled (1877) wird deutlich, wie viele Faktoren günstig zusammengewirkt haben, und wie Organisationen sich stabilisierend auswirken können.
Zur Zeit der Publikation gab es ein breites Interesse an esoterischem Wissen im religiösen Feld. Das zeigte sich in erfolgreichen ähnlichen Titeln. Der Verleger Bouton hatte das richtig eingeschätzt. Auch die breitere Öffentlichkeit war durch die Tagespresse über Skandale und Aktionen im religiösen Feld gut informiert und genoss eventuell den unterhaltsamen Wert bzw. schüttelte den Kopf. Die Werbung Boutons generierte einen Spannungsbogen bis zur Veröffentlichung und bereitete Multiplikatoren im Vorfeld auf das Werk vor. In weniger als zwei Wochen waren die 1000 Exemplare des ersten Drucks verkauft. Das könnte neben der Werbekampagne auch an einem gesteigerten öffentlichen Interesse an Blavatsky gelegen haben, die durch ihre Persönlichkeit und diversen Leserbrief-Disputen mit namhaften Spiritisten in den Zeitungen ein Begriff war. Auch zahlungskräftige Mitglieder der Society und der Versand von Belegexemplaren mögen dazu beigetragen haben. Die weiteren Ankündigungen von Nachdrucken und Editionen generierten wiederum kulturelles Kapital und öffentliches Interesse am erfolgreichen Buch.
Der wichtigste Baustein des anhaltenden Erfolges war allerdings die Gründung der Theosophical Society. Ihr Bestehen sicherte eine Rezeption des Buches mindestens in den eigenen Reihen auch in der Zukunft. Dies war zwar nicht die Intention der GründerInnen gewesen, doch zeigt sich hier deutlich die Dynamik von strukturierendem Feld, aus dem heraus die Society entstand, und dem Einfluss der entstandenen Strukturen im Feld, die die Verbreitung weltanschaulicher Ideen ermöglichte. Obwohl die Society zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Isis Unveiled intern kaum mehr aktiv war, bot sie nach außen eine Organisation, sie größer erschien und über die berichtet werden konnte. Aus ihren Reihen kam auch das Team von AutorInnen, das den Text erschuf und aus den religiösen Ideen der Zeit schöpfte. Ein wichtiger Baustein für die Veröffentlichung war allerdings auch der Verleger, der den Inhalt für druckwürdig hielt und ein physisches Objekt ermöglichte. Nach der Erscheinung wiederum konnte das Werk Isis Unveiled seine Wirkung über Kommunikationskanäle und Strukturen entfalten, die seine Verbreitung sogar international förderten. Sowohl das Buch als auch die Theosophical Society blieben bestehen, selbst als die HauptakteurInnen den Ort des Wirkens verließen. Die Strukturen im religiösen Feld wiederum ermöglichten die Rezeption bis in die heutige Zeit.
Und was sagt Bourdieu dazu?
Durch den Ansatz der Feldtheorie nach Bourdieu konnte ich den Erfolg des Werkes vom esoterischen Inhalt entkoppeln und jenseits einer Diskussion des Wahrheitsanspruchs oder des dahinter liegenden Weltbilds betrachten. Stattdessen stehen die Beziehungen der einzelnen Akteure im religiösen Feld im Mittelpunkt, die Dynamik der Positionierungen, ihre Reichweite und ihr religiöses Kapital. Jedes Feld wird in der Interaktion zwischen EinzelakteurInnen, Gruppenakteuren und den hervorgebrachten Objekten aufgespannt, die es gestalten und von ihm beeinflusst werden. Dabei sind die Menschen von ihrer Sozialisation geprägt und von ihrer Persönlichkeit, ihren Fähigkeiten, Bedürfnissen und Motivationen beeinflusst. Die Gruppenakteure wiederum werden von den Menschen gestaltet und realisiert, die sich in ihnen zusammengeschlossen haben. Auch unbelebte Objekte können im Rahmen eines Feldes von Akteuren Signifikanz verliehen bekommen, die sie zu einer unabhängigen Agency befähigen.
Dies zeigt einmal mehr, dass Worte mehr als Schall und Rauch sind. Werden sie fixiert, aufgeschrieben oder gedruckt, können sie über Raum und Zeit hinweg ihre Wirkung entfalten. Die globale Vernetzung hat durch die Digitalisierung und soziale Netzwerke eine enorme Reichweite erhalten. Phänomene wie Echokammern, unreflektierte Vielschreiber oder verzerrende Behauptungen kann man zwar schon auch im 19. Jahrhundert beobachten, doch die Reichweite, das Volumen und die Schnelligkeit haben sich verändert. Dabei ist der Einfluss von KI-generierten Texten noch nicht absehbar. Um so mehr sind in der Textproduktion und ‑veröffentlichung sorgfältige Wortwahl und reflektierte Reaktion gefragt.
Robyn Handel, B.A. Religionswissenschaft, Goethe Universität Frankfurt, 2025
Weiterführende Quellen
- Blavatsky, Helena Petrova (1877): Isis Unveiled – A Master-Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology. New York: James W. Bouton.
- Brown, Candy Gunther (2007): Religious Periodicals and Their Textual Communities. In: Casper et al., A History of the Book in America. Chapel Hill: University of North Carolina Press. 270–278.
- Campbell, Bruce F. (1980): Ancient Wisdom Revived – A History of the Theosophical Movement. Berkeley: University of California Press.
- Coleman, William Emmette (1891): „The Unveiling of „Isis Unveiled“ – A Literary Revelation“. The Golden Way, 1891, v1 (2), 65–76; v1 (3), 151–163; v1 (4), 207–221; v1 (5), 273–78; v1 (6), 335–41; v1 (7), 410–16; v1 (8), 470–79.
- Gunn, Robert A.: „Alexander Wilder, His Life and Work“. Metaphysical Magazine, 1908, 274–303.
- Karstein, Uta (2019): „Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld. Zur Ökonomie des Heilsgeschens (2000)“. In: C. Gärtner und G. Pickel (Hrsg.), Schlüsselwerke der Religionssoziologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien. 493–500.
- Meade, Maude (1980): Madame Blavatsky – The Woman Behind the Myth. New York: Putnam.
- Morton, Lisa (2020): Calling the Spirits – A History of Seances. London: Reaktion Books.
- Pettengill, S. M. (1877): Pettengill’s Newspaper Directory and Advertisers’ Handbook for 1877. Comprising a Complete List of the Newspapers and other Periodicals Published in the United States and British America. New York: S.M. Pettengill & Co. Weitere Ausgaben für 1870 und 1878.
- Prothero, Stephen Richard (1990): Henry Steel Olcott (1832–1907) and the Construction of “Protestant Buddhism”. Harvard University ProQuest Dissertations & Theses.
- Prothero, Stephen Richard (1993): „From Spiritualism to Theosophy: ‚Uplifting‘ a Democratic Tradition“. Religion and American Culture: A Journal of Interpretation, Summer, 1993, Vol. 3, No. 2 (Summer, 1993), 197–216.
- Rudbøg, Tim (2012): H.P. Blavatsky’s Theosophy in Context: The Construction of Meaning in Modern Western Esotericism. PhD University of Exeter.
- Streib, Heinz [Hrsg.] (2014): Deconversion — qualitative and quantitative results from cross-cultural research in Germany and the United States of America. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Tindal, George Brown und David E. Shi (2012): America – A Narrative History. New York (brief 9th ed.). New York: Norton.
Fußnoten
- Der Begriff „Theosophical Society“ wird unübersetzt verwendet, da es im betrachteten Zeitraum nur die englischsprachige Gesellschaft mit relativ einheitlicher Agenda gab. Mit dem Tod Blavatskys traten intern Zerwürfnisse auf, die zu Abspaltungen und Ausgründungen führten. Die deutsche „Theosophische Gesellschaft“ wurde 1898 als Zweig der Theosophical Society Pasadena gegründet, die sich inhaltlich von der Gründungszeit schon deutlich weiterentwickelt hatte. ↩︎
- Der moderne Spiritismus trat 1848 in Amerika mit den Fox-Schwestern an die Öffentlichkeit und gelangte schnell über England nach Europa. Die beiden Schwestern agierten sehr erfolgreich als Medium im Kontakt mit Verstorbenen, die sich durch Klopfgeräusche verständlich machten oder über automatisches Schreiben Botschaften an die Hinterbliebenen diktierten. Die Phänomene wurde als Beweis für ein Leben nach dem Tod angesehen und boten eine Möglichkeit mit den Toten in Kontakt zu treten. Eine historische Übersicht bei Lisa Morton (2020): Calling the Spirits – A History of Seances. ↩︎
- Bourdieu entwickelte den soziologischen Ansatz der Feldtheorie im Kontext der Kultursoziologie. Er war daran interessiert, wie sich soziale Praxis konkret im Feld zeigt und welche Dynamik sich unter den Akteuren beobachten lässt. Diese Perspektive lässt sich auf die unterschiedlichsten Felder der Gesellschaft übertragen. Für das religiöse Feld siehe Karstein (2019). ↩︎
- Diese Regeln sind für Außenstehende nicht unbedingt sichtbar, aber natürlich für die SpielerInnen höchst relevant, wenn sie erfolgreich sein wollen. Wer die Regeln bestimmt, wie sie ausgehandelt werden, wie sie aufrecht erhalten werden und wer sie kontrolliert…das sind alles gruppendynamische Prozesse. von Streib (2014) übernommen. ↩︎
- Die Visualisierung von Bereichen und Konversionsdynamiken wurde von Streib (2014) übernommen. ↩︎
- Bourdieu unterscheidet zwischen vier verschiedenen Arten des Kapitals: Ökonomisches Kapital umfasst jede Form materiellen Besitzes. Es ist grundlegend für alle anderen Kapitalformen jedoch keine Machtgarantie. Kulturelles Kapital kann sowohl in Objekten (Gegenstände) verankert sein, als auch in Wissen und Fähigkeiten (personengebunden) und Bildung (institutionell legitimiert). Soziales Kapital beruht auf sozialen Beziehungen (Familie, Arbeit, Freundschaft) und Mitgliedschaften. Symbolisches Kapital bedeutet zum Beispiel die Deutungshoheit der sozialen Ordnung und des Weltbildes ↩︎
- Blavatskys Person hat polarisiert, was sich in der Vielfalt ihrer Biographien niederschlägt. Eine recht detailierte Darstellung findet sich bei Meade (1980). ↩︎
- Als studierter Landwirt und baute eine Muster-Farm auf, als Oberst im Bürgerkrieg wurde er mit der Untersuchung von Veruntreuung betraut, als Jurist wurde er nach dem Bürgerkrieg ein erfolgreicher Rechtsanwalt, als Journalist berichtete er in diversen Zeitungen. Einen biographischen Überblick gibt Prothero (1990) und die Entwicklung vom Spiritisten zum Theosophen wird bei Prothero (1993) dargestellt. ↩︎
- Zur Biographie Wilders gibt es einen umfangreichen Nachruf von Gunn (1908) ↩︎
- Eine gut erzählte Geschichte Nordamerikas findet sich bei Tindal/Shi (2012). ↩︎
- Allein in New York waren für 1877 insgesamt 1076 Zeitungen gelistet, davon 101 tägliche und 710 wöchentliche Titel. Einige Tageszeitungen hatten noch eine zweite Abendausgabe. (Pettengill 1877) ↩︎
- Die Rolle von Fachzeitungen für religiöse Gemeinschaften wird bei Brown (2007) beschrieben. ↩︎
- Ein informativer Überblick der Anfangszeit gibt Campbell (1980). ↩︎
- Veröffentlich von Coleman (1891) im Golden Way. Eine akademische Übersicht der verwendeten Quellen bei Rudbog (2012). ↩︎
- In der Wissenskommunikation waren Bibliotheken im 19. Jahrhundert zentral. In ihnen war das Wissen der Zeit eingelagert und für alle Mitglieder zugänglich. Öffentliche Bibliotheken dienten der Allgemeinbildung. Die Kataloge aus dieser Zeit wiesen eine große Bandbreite (auch) an religiösen, spirituellen und antiken Werken auf und Neuzugänge wurden regelmäßig veröffentlicht. Durch enge Zusammenarbeit und Austausch mit internationalen Verlagen waren auch Neuerscheinung aus Europa in den Beständen schnell zu finden. ↩︎
- Prothero (1993). ↩︎




