Was ist „Hinduismus“ und wie finde ich das heraus? Perspektiven einer Studierenden:

Zu Beginn meines Studi­ums der Reli­gion­swis­senschaft hörte ich fol­gende Anek­dote:

In der britis­chen Kolo­nialzeit wurde in der indis­chen Bevölkerung eine Umfrage durchge­führt, um die Reli­gion­szuge­hörigkeit zu erheben. Es gab feste Box­en zum Ankreuzen, also so etwas wie „Chris­t­ian“, „Mus­lim“, „Hin­du“. Viele Men­schen wussten nichts mit diesen Kat­e­gorien anz­u­fan­gen, daher kreuzten sie nichts an oder fan­den eigene Beschrei­bun­gen und Erk­lärun­gen.  Die Geschichte sollte uns als Studieren­den das Prob­lem von Umfra­gen bzw. religiösen Kat­e­gorien verdeut­lichen.1

Da ich selb­st eine Per­son bin, die zwar christlich aufgewach­sen ist, aber ihren Glauben nicht (mehr) in fes­ten Kat­e­gorien denkt, hat mich das fasziniert und ich war von dort an entschlossen, mehr über das Reli­gionsver­ständ­nis in Indi­en und den dort ver­bre­it­eten Glaubens­for­men her­auszufind­en. Mich inter­essierte beson­ders, was als „Hin­duis­mus“ beschrieben wird.

In der Schule hat­te ich mich bere­its mit „dem Hin­duis­mus“ beschäftigt. Wir hat­ten etwas über die Totenbestat­tung durch Kre­ma­to­rien gel­ernt, über die Diskri­m­inierung von „Unberührbaren“ (Dal­its) durch das Kas­ten­sys­tem und sehr spär­lich etwas über Bräuche am Lichter­fest Diwali. Für einen Test mussten wir ein paar „Göt­ter­na­men“ und weit­ere Begriffe wie „Kar­ma“ auswendig ler­nen.

Öllam­p­en zum Diwali — dem indis­chen Lichter­fest

Ich nutzte sowohl Studi­um und Freizeit, um immer mehr zu ler­nen. Die geis­teswis­senschaftliche Meth­ode, auch bekan­nt als hermeneutis­ch­er Zirkel besagt, dass es hil­ft, ein Vorver­ständ­nis von ein­er Sache zu haben. Dieses Vorver­ständ­nis wird dann aber in vie­len neuen Ver­ständ­nis­prozessen kor­rigiert und ver­fein­ert. Im Fall von Reli­gion heißt das: Ich ver­suche immer, neue Per­spek­tiv­en einzu­binden, um plu­raler hin­se­hen zu kön­nen.

Die Hindu-Vielfalt studieren

In meinem Studi­um belegte ich zwei für mein Vorhaben rel­e­vante Sem­i­nare. Ich lernte den nicht ide­alen, aber für uns reli­gion­swis­senschaftlich dien­lichen Begriff der „Hin­du-Tra­di­tio­nen“. Dieser bein­hal­tet noch das pop­ulär geläu­fige „Hin­du“ (im Grunde eine geo­graphis­che Beze­ich­nung, wörtl. „Fluss“) und ver­rät gle­ichzeit­ig schon seine Vielfalt. Sanatana Dhar­ma ist eine der Eigen­beze­ich­nun­gen für Hin­du-Tra­di­tio­nen und heißt so etwas wie „ewiges Gesetz“.  Ich hörte von den zwei promi­nen­testen Kat­e­gorien für Glaubens­ge­mein­schaften inner­halb der Hin­du-Tra­di­tio­nen, Vaish­navas und Shaivas.2 Sie verehren jew­eils in monothe­is­tis­chem Ver­ständ­nis die Gottes­for­men Vish­nu oder Shi­va.

Ich las das Erzählgedicht Bha­gavad Gita („Lied des Her­rn“)3: Hier offen­bart sich Krish­na (eine Inkar­na­tion bzw. ein Avatar Vish­nus) dem Wagen­lenker Arju­na als allum­fassender, mächtiger Gott und ver­mit­telt ihm Weisheit­slehren über die Ein­stel­lun­gen zu Exis­tenz und Tod, die Mut und Gelassen­heit im bevorste­hen­den Kampf stärken sollen.4

Außer­dem lernte ich in einem Semes­ter die vielfältige Geschichte von Yoga ken­nen. Promi­nent war das Ver­ständ­nis von Yoga als „Verpflich­tung zur Selb­st­tran­szen­denz“.  Dies unter­schei­det sich vom alltäglichen Nutzen­ver­ständ­nis von Yoga als Stärkung von Kör­p­er und Geist. Inner­halb des Sem­i­nars waren wir dann auch zu ein­er Yogas­tunde ein­ge­laden.

Yoga ist inzwis­chen auch in nicht-hin­duis­tis­chen Län­dern pop­ulär gewor­den

Über Krishnas Butterliebe lesen

Ich las ein Buch mit kleinen Geschicht­en über Krish­na und kam nicht daran vor­bei, Krish­na immer wieder mit Jesus im Chris­ten­tum zu ver­gle­ichen — unser Ver­ständ­nis von Anderem ist häu­fig geprägt von Erzäh­lun­gen, die wir aus dem eige­nen Kon­text ken­nen. Eine Inkar­na­tion Gottes, gütig alle liebend, durchs Land ziehend, heilend, Wun­der voll­brin­gend. Aber natür­lich gab es da auch große Unter­schiede.  Die Mytholo­gie, in die Krish­na einge­bet­tet ist, liest sich als Geschichte eines Herrschergeschlechts, geprägt vom Kampf zwis­chen Gut und Böse, aber auch von vie­len Lis­ten und Intri­gen.

Was mir auffiel, war die kindliche Seite von Krish­na. In seinen jun­gen Jahren wird seine Lust nach But­ter betont und wie er durch geschick­te, aber liebevolle Manip­u­la­tion sein­er Fam­i­lie, Fre­unde und Nach­barn immer wieder an riesige But­ter­vor­räte gelangte.5 

Verehrung im Tempel erleben

Den Tem­pel Aasamai Mandir („Hoff­nung der Mut­ter“) in Frank­furt am Main habe ich als einen gemein­schaftlichen Ort wahrgenom­men. Er ist zweigeteilt in einen Speis­er­aum und einen Raum für die Verehrung­sprax­is. Darin herrscht stets ein leicht würziger Geruch, und während der belebten Wochen­t­age kann ich sin­gen­den Stim­men und Perkus­sion­sin­stru­menten lauschen. Die Göt­ter­fig­uren sind in einem Schrein aufgerei­ht. Während der Ver­samm­lungstage läuten die Men­schen eine Glocke, ver­beu­gen sich, laufen um den Schrein herum, und leg­en aus­gewählten Fig­uren etwas Kleines hin, meist etwas zu essen.

Diese Gemein­schaft ist der „Afghan Hin­du Kul­turvere­in“. Ein Vertreter war ein­mal in einem Sem­i­nar bei uns zu Gast, um von der Geschichte und Kul­tur der Hin­dus in Afghanistan und der heuti­gen Dias­po­ra-Sit­u­a­tion auf­grund religiös­er Ver­fol­gung durch die Tal­iban zu erzählen.6

Daraufhin entsch­ied ich mich, diese Gemein­schaft zu besuchen, um einen Forschungs­bericht zu schreiben. Meine hier gemacht­en Erfahrun­gen wären sich­er noch einen eige­nen Blog­a­r­tikel wert, ich will hier nur kurze weit­ere Schlaglichter wer­fen: Mir gegenüber wurde mehrfach das monothe­is­tis­che Ver­ständ­nis eines einzi­gen Gottes hin­ter den vie­len Fig­uren betont.  Unter afghanis­chen Hin­dus gäbe es kein Kas­ten­sys­tem; grundle­gend wie in allen Reli­gio­nen sei, dass der Men­sch das Wichtig­ste ist. Aus der Bha­gavad Gita wer­den zwei zen­trale Aus­sagen her­vorge­hoben: Tu gute Tat­en. Nimm nichts, was dir nicht gegeben wird. 

Menschen nach ihrem „Hinduismus“ befragen

Ich begeg­nete so eini­gen Men­schen, die mein Ver­ständ­nis von Hin­du-Tra­di­tio­nen erweit­erten.

Die Tra­di­tio­nen sind präsent im Leben:
Als ich mit ein­er Gruppe einen weit­eren Hin­du-Tem­pel in Frank­furt besuchte, brachte uns eine Frau aus­führlich nah, welche Rolle Gottes­fig­uren im All­t­ag spie­len. Sie wer­den in das Leben einge­bun­den und wie Men­schen behan­delt. Ihnen wird Essen darge­boten, sie wer­den gewaschen, sie wer­den eingek­lei­det und geschmückt. Ihnen wer­den Sor­gen erzählt.

Sie sind offen:
Ich begeg­nete einem anglikanis­chen Pfar­rer aus Indi­en, der Krish­na mit Gesang und Tanz verehrte. 

Sie sind eine Verbindung zur Heimat:
Ich traf einen Men­schen aus Indi­en, der in Deutsch­land sein Dok­torstudi­um absolvierte. Er beze­ich­nete sich selb­st als Athe­ist und besuchte den­noch hier Tem­pel, um Tra­di­tio­nen zu pfle­gen und Gemein­schaft zu erleben.

Sie wer­den auch „säku­lar“ und mis­sion­ar­isch ver­standen:
In einem Tik­Tok Live begeg­nete ich einem Stream­er, der zum einen in apolo­getis­ch­er Absicht vom Hin­duis­mus erzählte, zum anderen klar machte, dass Hin­duis­mus KEINE Reli­gion, son­dern eine Philoso­phie sei. Krish­na sei kein Gott, den er verehrte, son­dern sein tat­säch­lich­er geschichtlich­er Vor­fahre. Die Bha­gavad Gita sei eine bloße Weisheit­slehre und Yoga sei eine Prax­is, die das Leben von allen Men­schen auf der Welt zum Guten führen könne. Er war stolz darauf, dass Yoga als „tro­janis­ches Pferd“ Hin­duis­mus her­aus aus seinem Land in alle Welt bringt.

Orte gelebten Glaubens bereisen

Während mein­er ein­monati­gen Reise durch Indi­en vor zwei Jahren hat­te ich viele Gespräche über Glaubens­for­men – mit Studieren­den, Ärzt:innen, Gläu­bi­gen und Skeptiker:innen.

Tem­pel in Mum­bai

Ein Dok­torand aus Mum­bai beschrieb den Hin­duis­mus als eine Reli­gion mit Tausenden von Göt­tern, bei der stark Feste, Tra­di­tio­nen und eine ani­mistis­che Welt­sicht im Vorder­grund ste­hen. Ein weit­er­er Dok­torand äußerte ambiva­lente Gefüh­le: Ein­er­seits sehe er pos­i­tive Ein­flüsse, ander­er­seits nehme Reli­gion auch Frei­heit­en – vor allem die der per­sön­lichen Entschei­dung. Das Navigieren zwis­chen unter­schiedlichen Glaubenssys­te­men sei eine Her­aus­forderung – wie soll ein Men­sch den richti­gen Weg find­en? Beson­ders ein­drück­lich war auch ein Schild an einem Zaun, auf dem stand: „My def­i­n­i­tion of reli­gion is to be in tune with nature.“

Hin­du-Tra­di­tio­nen wer­den häu­fig promi­nent mit dem Kas­ten­sys­tem in Verbindung gebracht, das Men­schen hier­ar­chisch in die Grup­pen Brah­mana (Brah­mins), Ksha­triya (Krieger), Vaishya (Bauern und Kau­fleute), Shu­dra (Diener) ein­teilt.7 Geset­zlich ist es abgeschafft, den­noch tren­nt es weit­er­hin die Gesellschaft und begrün­det Diskri­m­inierung, vor allem von Kas­ten­losen. In Vorträ­gen wurde mir erk­lärt, dass es früher eine gewisse Durch­läs­sigkeit zwis­chen den Kas­ten (cast mobil­i­ty) gab, die heute nicht mehr so existiert. Es gibt jedoch Ver­suche, das ursprüngliche flex­i­ble Ver­ständ­nis von Kaste (var­na) wiederzubeleben. Im Prinzip sind alle Ler­nen­den als Brah­mins (höch­ste Kaste) zu ver­ste­hen. Wer die Tätigkeit des Putzens aus­führt, ist in diesem Moment Shu­dra oder wer verkauft, Vaishya. Im Prinzip sei es eine Berufs­beze­ich­nung.8

Ein Arzt aus der indi­ge­nen Rath­wa-Gemein­schaft in Gujarat erk­lärte mir: „Dhar­ma can give way of life, that’s why we believe in a God“. So würde das Denken der Men­schen geord­net. Der Begriff Dhar­ma wird oft als „Reli­gion“ ver­standen, heißt aber in erster Lin­ie Wahrheit, Gesetz oder Pflicht­en der Hin­du-Tra­di­tio­nen.9 Und eine junge mus­lim­is­che Frau sagte zu ihrem Mit­feiern in der Far­ben- und Wasser­schlacht beim Früh­lings­fest Holi: „I cel­e­brate all fes­tives, because I am a human being“.

Diese Stim­men zeigen, dass Reli­gion in Indi­en nicht als festes Dog­ma ver­standen wer­den muss, son­dern genau­so als kom­plex­es, lebendi­ges Geflecht aus All­t­ag, Iden­tität und Spir­i­tu­al­ität gelebt wird.10

Fazit


Eins der wichtig­sten Take-Aways vom ersten Semes­ter der Reli­gion­swis­senschaft ist es, Reli­gio­nen und Glauben­srich­tun­gen nicht zu essen­tial­isieren, son­dern plur­al zu denken. Ich möchte einige der hier dargestell­ten Erken­nt­nisse zusam­men­fassen:

  • Viele Hin­dus sehen sich selb­st als Monothe­is­ten mit jew­eils ein­er promi­nen­ten Gestalt, in der sie Gott verehren. In der Schrift Bha­gavad Gita find­et sich eine Art Pan­the­is­mus, also die Gle­ich­set­zung Gottes mit dem Uni­ver­sum.
  • Hin­dus haben nicht nur eine lange Geschichte in Indi­en, son­dern auch in anderen Län­dern, wie Afghanistan.
  • Es geht, wie bei den meis­ten Reli­gio­nen, für jeden um etwas anderes. Dem einen sind Tra­di­tio­nen wichtig, dem anderen die philosophis­che Wahrheitssuche.
  • Es gibt auch ein säku­lares Ver­ständ­nis der Gottesinkar­na­tio­nen als Vor­fahren.

Jede weit­ere Begeg­nung und Auseinan­der­set­zung hat das Poten­zial, diese Ver­ständ­nisse zu bere­ich­ern.

Chiara Pohl, B.A. Reli­gion­swis­senschaft, Goethe Uni­ver­sität Frank­furt.
Dieser Blog­a­r­tikel ent­stand im Rah­men der Spring School Rel­Wis­sKomm 2025

Quel­len­verze­ich­nis

  1. Fried­lan­der, P. (2007). Reli­gion Race, Lan­guage and the Anglo Indi­ans: Eurasians in
    the cen­sus of British India
    . https://www.academia.edu/1826058/Religion_Race_Language_and_the_Anglo_Indians_Eurasians_in_the_census_of_British_India. ↩︎
  2. Mall, R. A. (1997). Der Hin­duis­mus: Seine Stel­lung in der Vielfalt der Reli­gio­nen. Primus Ver­lag: 62. ↩︎
  3. Knott, K. (2000). Hin­duism: A very short intro­duc­tion. Oxford Uni­ver­si­ty Press. https://doi.org/10.1093/actrade/9780192853875.001.0001: 15f. ↩︎
  4. Mylius, K. (Hrsg ). (1997). Die Bha­gavadgītā: Des Erhabenen Gesang (Vollst. Ausg.). Dt. Taschen­buch-Verl. ↩︎
  5. Vilas, S. (2021). The Lit­tle Blue Book on Krish­na: Prakash Books. ↩︎
  6. Singh, I. (2019). Afghan Hin­dus and Sikhs: His­to­ry of a thou­sand years. Read­o­ma­nia. ↩︎
  7. Knott, 2000,  S.19. ↩︎
  8. Mall, 1997, S.4. ↩︎
  9. Knott, 2000, S.20f. ↩︎
  10. Mall, 1997. S.11f. ↩︎

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